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Unfallversicherung
23. November 2017
„Berater sollten grundlegende Bemessungsempfehlungen zur Invalidität wissen“

„Berater sollten grundlegende Bemessungsempfehlungen zur Invalidität wissen“

Als ärztlicher Sachverständiger erstellt Dr. Holm-Torsten Klemm medizinische Gutachten für private Unfallversicherer. In manchen Fällen ist es für den Gutachter schwierig, eine Prognose von Unfallverletzungsfolgen zu stellen. Auch zum Teil exotische Versicherungsbedingungen stellen Gutachter in der Praxis mitunter vor Herausforderungen.

Herr Dr. Klemm, wie gestaltet sich die Tätigkeit eines medizinischen Gutachters in der privaten Unfallversicherung?

Ärztliche Sachverständige tragen in verschiedenen Rechtsgebieten zur Entscheidungsfindung der Leistungserbringer bei. Während der ärztliche Sachverständige zum Beispiel im Haftpflichtrecht prüft, welche Funktionen dem Geschädigten im beruflichen wie privaten Leben unfallbedingt verschlossen sind, muss er in der privaten Unfallversicherung nach den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) prüfen, welche rein unfallbedingten Funktionseinbußen inner- oder außerhalb der sogenannten Gliedertaxe verblieben sind. Hierbei ist auch ärztlich zu prüfen, ob vorbestehend die Funktion zum Beispiel der Gliedmaße im Sinne einer Vorinvalidität eingeschränkt war und ob am Eintritt, dem Heilverlauf und/oder dem Folge­zustand der Unfallverletzung unfallunabhängige Krankheiten und/oder Gebrechen mitgewirkt haben.

Für diese speziellen Fragestellungen muss der Versicherer einen ärztlichen Sachverständigen hinzuziehen, der Arzt ist also hier Helfer oder Erfüllungsgehilfe des Versicherers als Auftraggeber. Ist der Gutachter auch der Behandler des Unfallverletzten, so muss er sich unabdingbar aus der ursprünglichen Arzt-Patienten-Beziehung lösen und eine sowohl gegenüber Auftraggeber als auch Versichertem unabhängige Position einnehmen. Bei rein gutachtlich tätigen Praxen/Instituten fehlt von vornherein dieser Widerspruch in der Arzt-Patienten-Beziehung als Heiler und Gutachter.

Dem Gutachter sind vom Auftraggeber die sogenannten Anknüpfungstatsachen (ermittelter Unfallhergang, ärztliche Behandlungsdokumentationen etc.) vorzugeben. Die Pflicht des Gutachters besteht darin, aufgrund seiner Sachkunde sogenannte Befundtatsachen zu ermitteln. Anhand derer kann der Gutachter dann die vom Auftraggeber gestellten Fragen auf ärztlichem Fachgebiet sachkundig beantworten.

Wie läuft die Gutachtenerstellung denn in der Regel ab?

Der ärztliche Sachverständige hat nach Beauftragung zur Gutachtenerstellung die vorgelegten Unterlagen zu sichten und zu klären, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt. Er muss prüfen, ob weitere Befunddokumentationen über den Auftraggeber oder den Versicherten selbst beizubringen sind und ob ggf. aufgrund der Komplexität der erlittenen Unfallverletzungsfolgen die Ausweitung des Gutachtenauftrages auf Fachzusatzgutachter zu empfehlen ist. Nach Genehmigung durch den Auftraggeber hat der Sachverständige dann zeitnah die notwendigen Untersuchungstermine zu vereinbaren.

Während der Begutachtung fragt der Sachverständige zunächst nach den unfallbedingt geltend gemachten gesundheitlichen Beschwerden und ggf. nach den Unfalldaten und -umständen, sofern dies für die Beantwortung der Gutachtenfragen notwendig ist. Danach erfolgt eine sachbezogene ärztlich-klinische Untersuchung und falls erforderlich eine weitere apparative Diagnostik. Erst dann beginnt der Gutachter mit der Aufarbeitung aller Befunde.

Die gutachtliche Beurteilung ist vom ärztlichen Sachverständigen so abzufassen, dass sie auch für den medizinischen Laien verständlich ist, um eine höchstmögliche Plausibilität und Nachprüfbarkeit zu ermöglichen, was eine neutrale Begutachtung garantiert.

Wie ist es beispielsweise um die Qualität der Unterlagen bestellt?

Die private Unfallversicherung als Auftraggeber sollte versuchen, Behandlungsdokumentationen des Versicherten anlässlich des Unfallgeschehens möglichst bereits bei Auftragserteilung vollständig dem ärztlichen Sachverständigen vorzulegen. Oftmals ist es leider so, dass parallel auch eine Begutachtung für einen gesetzlichen Unfallversicherer erfolgt ist und der Versicherte dann aufgrund der Amtsaufklärungspflicht des gesetzlichen Unfallversicherers davon ausgeht, dass er im Begutachtungsverfahren für den privaten Unfallversicherer keinerlei Befunde mehr vorlegen muss, sondern sich der Versicherer darum kümmert.

Da diese Amtsaufklärungspflicht im Zivilrecht nicht besteht, muss der ärztliche Sachverständige bei fehlenden Unterlagen zunächst eine separate Schweigepflichtentbindung des Versicherten einholen, um dann weitere Befunde beiziehen zu können. Dies erschwert nicht nur die Arbeit des ärztlichen Sachverständigen, sondern verzögert auch entscheidend die Bearbeitungszeit des Gutachtenauftrags. Fehlende oder nicht beibringbare ärztliche Befunddokumentationen gehen leider zulasten des Anspruchsstellers.

Welche Probleme ergeben sich aus der Komplexität der Versicherungsbedingungen?

Nach der Liberalisierung des EU-Binnen­markts mit Wegfall der Genehmigungspflicht der Versicherungsbedingungen durch die nationale Aufsichtsbehörde gibt es unzählige spezielle, von den bisherigen AUB des GDV abweichende Versicherungsbedingungen mit zum Teil exotischen Vertragsgestaltungen. Sollen spezielle Beurteilungen der unfallbedingten Funktionseinschränkung durch den ärztlichen Sachverständigen erfolgen, so muss dies der Auftraggeber dem Sachverständigen mitteilen, da dieser sich ansonsten auf die bisherigen AUB-Musterbedingungen zum Beispiel bei der Invaliditätsbemessung stützen muss.

Probleme erwachsen aus diesen speziellen Versicherungsbedingungen regelhaft auch dem Sachbearbeiter des Versicherers, wenn er dann etwa mit Fallgestaltungen umgehen muss, bei denen eine Vorinvalidität von 1/10 Hand bestand und aus dem aktuell zu beurteilenden Unfallverletzungsfolgezustand   O der Sachverständige eine Invalidität von 1/10 Arm bemisst, hier aber eben zum Beispiel Hand- und Armwert gleichermaßen 70% aus der Versicherungssumme betragen. Diese speziellen Fallgestaltungen müssen dann mit dem ärztlichen Sachverständigen natürlich nochmals besprochen werden und man muss, wie im oben geschilderten Fall, natürlich zu einer Lösung für den Versicherten kommen, da ja nach dem neueren Unfallgeschehen ein Zugewinn an Funktionsstörungen zu verzeichnen ist, was auch reguliert werden muss.

Und welche Herausforderungen birgt die Bemessung der Invalidität oder die Beurteilung der Prognose?

Probleme können sich ergeben bei der Beantwortung von Fragen zum Unfallzusammenhang in Fällen, in denen anlässlich eines Unfallereignisses eine bis dahin stumm oder symptomarm verlaufene Krankheit oder ein Gebrechen symptomatisch werden, ohne dass die Grund­voraussetzung der primären Sicherung einer Erstgesundheitsschädigung erfüllt ist. Derartige Konstellationen sind natürlich seitens des Versicherers dem Betroffenen schwerlich nahezubringen, der nicht unterscheidet, dass eine Gesundheitsstörung anlässlich bzw. bei einem Ereignis symptomatisch wurde und nicht unfall­kausal durch dieses Ereignis.

Die Beurteilung der Prognose von Unfallverletzungsfolgen kann in manchen Fällen schwierig sein. Im Gegensatz zum Haftpflichtrecht, wo der Geschädigte nach einem Feststellungsantrag über Folgeschäden den Unfallzusammenhang einfach nur wahrscheinlich machen muss, fordert die Rechtsprechung bei der privaten Unfallversicherung eine hohe Wahrscheinlichkeit seitens der Prognose im Sinne der invaliditätsrelevanten Änderung des Funktionsdefizits. Allein die Möglichkeit der Entwicklung zum Beispiel einer posttraumatischen Gelenkarthrose reicht hier für die Wahrscheinlichmachung einer nach vielen Jahren auftretenden Funktionsverschlechterung nicht aus. Dies stellt die Ärzteschaft oftmals vor ein Problem bei der Beurteilung.

Ein Problem ist mitunter die Wartezeit zwischen Leistungsantrag, Ergebnis der Begutachtung und Schadenregulierung. Wie lange dauert eine Begutachtung in der Regel?

Nach Auftragserteilung zur Begutachtung sollte bei vollständig vorliegenden Befunden eine Einbestellung zur gutachtlichen Untersuchung in der Regel innerhalb von vier Wochen erfolgen. Ist ein weiterer Termin und die Abstimmung mit Zusatzgutachtern notwendig, kann dieser Zeitraum natürlich verlängert sein. Nach der Untersuchung sollte dem Auftraggeber das Gutachten spätestens in der darauf folgenden Woche zugehen. Gutachten, die dem Versicherer erst viele Wochen oder gar Monate nach der gutachtlichen Untersuchung zugehen, sind regelhaft nicht mehr verwertbar. Denn hier muss man unterstellen, dass der Sachverständige nach dieser Zeit keine ausreichende Erinnerung an die spezielle Fallgestaltung und die Untersuchung mehr hatte.

Über die Verständlichkeit von Gutachten wird ja mitunter sehr diskutiert. Wie ist Ihre Einschätzung?

Der ärztliche Sachverständige ist grundsätzlich gehalten, seine gutachtlichen Ausführungen zumindest in der Beurteilung und Begründung so abzufassen, dass sie auch ein medizinischer Laie verstehen und nachvollziehen kann. Die Ausführungen sind also in deutscher Sprache zu machen, lateinische Ausdrücke sind zu vermeiden bzw. grundsätzlich dann zumindest in Klammern zu übersetzen.

Gibt es generell Verbesserungsvorschläge in Richtung Versicherer oder Berater?

Wie schon angesprochen, ist es für den ärztlichen Sachverständigen und auch für den zeitlichen Ablauf der gesamten Gutachtenerstellung hilfreich, wenn möglichst vollständig alle Befunddokumentationen vorgelegt werden können. Hier sollte auch im Vorfeld der Versicherte schon darauf hingewiesen werden, dass er im Zivilrecht eine Mitwirkungspflicht hat und er sich ggf. nach Aufforderung durch den ärztlichen Sachverständigen auch um Beibringung von Befunddokumentationen wie etwa Röntgen- oder MRT-Aufnahmen bemühen möge.

Die Berater sollten die grundlegenden Bemessungsempfehlungen zur Invalidität wissen, um auch realitätsferne Invaliditätswerte in – leider regelhaft ärztlichen – Attesten erkennen zu können. Damit kann viel Unverständnis und Streitpotenzial beim Versicherungsnehmer frühzeitig sachlich „geschlichtet“ werden. Genauso ist es aber wichtig, den Versicherten schon bei der Anspruchsstellung zu unterstützen, da insbesondere bei Mehrfachverletzungen immer wieder festzustellen ist, dass in ärztlichen Bescheinigungen zur Invalidität Verletzungsfolgen vergessen werden (da zum Beispiel fachfremd) und der Versicherte damit berechtigte Ansprüche verwirken würde.

Das Interview lesen Sie auch in AssCompact 11/2017, Seite 42 ff.

 
Ein Artikel von
Dr. Holm-Torsten Klemm

Leserkommentare

Comments

Gespeichert von Wilfried Strassnig am 23. November 2017 - 09:54

Viele Gutachten geben schon fast automatisch Vorschädigung, ohne das der Vorgeschädigte davon wußte, an. Damit drückt man den Invalliditätsgrad erheblich. Ich kann mir den Eindruck nicht ersparen, das es hier ein Entgegenkommen der Gutachter im Sinne weiterer Aufträge, gibt.