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03/2015
23. März 2015
„Die Versicherungswirtschaft ist für viele die Liebe auf den zweiten Blick“

„Die Versicherungswirtschaft ist für viele die Liebe auf den zweiten Blick“

Interview mit Dr. Michael Niebler, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Arbeitgeberverbands der Versicherungsunternehmen in Deutschland e.V.
Der AGV nimmt sich unter anderem Fragen der Weiterbildung sowie der Frauen- und Nachwuchsförderung in der Versicherungswirtschaft an. Die Herausforderungen wurden vom Verband lokalisiert, der nun die notwendigen Change-Prozesse intensiv begleiten will.

Herr Dr. Niebler, wird die Mitarbeiterzahl in der Versicherungswirtschaft weiter schrumpfen? Gerade im Lebensversicherungsbereich gibt es Veränderungen, und die sprechen ja eher dafür.

Die aktuelle Situation im Bereich Leben ist bekanntlich nicht leicht. Spartenübergreifend wird die Gesamtbeschäftigung per Saldo leicht zurückgehen. Ungeachtet dessen plant rund die Hälfte der Unternehmen, ihren Mitarbeiterbestand stabil zu halten bzw. zu erhöhen.

Wenn heute Versicherungsunternehmen von Investitionen sprechen, geht es meist um die Digitalisierung. Im ­Bereich des Personals sehen wir eher Kostenein­sparungen. Bleibt dies vorerst so?

Investitionen in die Digitalisierung erfordern natürlich auch Investitionen in die Belegschaft. Einfache Tätigkeiten werden aber zum Teil zur Disposition stehen, während Spezialisten und Fachkräfte gebraucht werden. Die Versicherer investierten allein im Jahr 2013 durchschnittlich rund 2.000 Euro in die Weiterbildung der Innendienstmitarbeiter.

Auch die Versicherungswirtschaft wird in Zukunft von Nachwuchssorgen nicht verschont bleiben. Das Image der Branche ist negativ. Wie will man es schaffen, ambitionierte Nachwuchskräfte für Innen-und Außendienst zu gewinnen?

Die Versicherer in Deutschland sind attraktive Arbeitgeber. Die Versicherungswirtschaft ist für viele „die Liebe auf den zweiten Blick“. Die erste Entscheidung für die Branche ist nicht immer leicht zu erreichen. Von denjenigen, die jedoch den Schritt gewagt haben, wollen dann die wenigsten wieder weg. Als tarifgebundene Unternehmen bieten Versicherer ihren Mitarbeitern neben guten Entwicklungsmöglichkeiten eine leistungsgerechte Bezahlung sowie soziale Leistungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die Arbeitsplätze in der Versicherungswirtschaft sind äußerst sicher. Zudem engagieren sich unsere Unternehmen seit Jahren überdurchschnittlich bei der Erstausbildung junger Menschen.

In der Versicherungswirtschaft sind viele Frauen tätig. ­ Im Außendienst ist der Anteil aber deutlich geringer, auf Führungsebene ist er noch geringer. Dies war Anlass für den AGV, das Projekt „Frauen in Führung“ zu starten. Mit welchen Fortschritten?

Mit dem Projekt ist es uns vor allem gelungen, mehr Bewusstsein in der Branche für dieses Zukunftsthema zu schaffen. Unser mit Vorständen und Führungskräften besetzter Branchenbeirat sowie unsere diversen Veranstaltungen sind eine optimale Plattform, um sich unternehmensübergreifend auszutauschen und Best-Practice-Ansätze zu entwickeln. Nicht alle Fördermaßnahmen sind gleichermaßen wirksam. Wenn es um die Erhöhung des Anteils von Managerinnen in den eigenen Reihen geht, darf man nicht auf kurzfristige Erfolge hoffen.

Das Ganze ist ein klassischer Change-Prozess, der konsequent verfolgt werden muss. Es geht vor allem darum, die eigene Unternehmens- und Führungskultur zu hinterfragen, aber auch Frauen und Männer dazu anzuregen, ihre eigenen Rollenvorstellungen zu überdenken. Genau diese Themen adressieren wir auf unseren Veranstaltungen und leiten daraus effiziente Ansätze für die Praxis ab, die wir anschließend in der Branche kommunizieren.

Welche Wege gibt es, Frauen auch für den Versicherungsvertrieb zu gewinnen und dort auch zu fördern?

In unserem Workshop „Frauen im Vertrieb“, bei dem zahlreiche erfolgreiche Vertriebsfrauen anwesend waren, haben wir festgestellt, dass viele Frauen draußen gar keine Vorstellung davon haben, wie spannend Vertrieb sein kann und vor allem, welche zeitliche Flexibilität er mit sich bringt. Es ist daher wichtig, besser über das Berufsbild zu informieren. Niemand eignet sich hierfür besser als diejenigen Frauen, die heute schon mit Begeisterung im Vertrieb tätig sind. Genau diese Frauen müssen wir aufgrund des Männerüberhangs im Vertrieb sichtbar machen. Nur so kann sich der weibliche Nachwuchs besser mit dem Vertrieb identifizieren.

Sie haben kurz die überdurchschnittlichen Weiterbildungsmaßnahmen der Versicherer angesprochen. Dies gilt vor allem für den Innendienst. Partner, etwa Versicherungsmakler, beklagen durchaus aber auch schon mal, dass an manchen Schnittstellen die Ansprechpartner heute schlechter ausgebildet seien als früher. Wie passt das zusammen?

Der Versicherungsmarkt verändert sich heute immer schneller. Eine gesteigerte Kunden- und Serviceorientierung in einem schnelllebigen Unternehmens- und Marktumfeld mit ständig neuen und komplexen Produkten hat das Aufgabenfeld der Mitarbeiter verändert. Sie müssen sich flexibel zurechtfinden, sich individuell auf den Kunden einstellen, eigenverantwortlich und unternehmerisch handeln und dabei auf eine solide Grundlage an Fachwissen zurückgreifen. Um dieses Fachwissen aktuell zu halten, werden die Kollegen des Innendienstes durchschnittlich 58 Stunden pro Jahr weitergebildet. Eine beachtliche Leistung, die die Unternehmen hier stemmen.

Parallel dazu steigen die Anforderungen der Partner. Betreuungsintensität und -qualität rücken genauso in den Fokus wie Reaktionsgeschwindigkeit und Kundenorientierung. Die Mitarbeiter sind aus meiner Sicht durch die Bank weg heute besser und übergreifender qualifiziert als früher, nur dass dies leider nicht immer so von den Kunden oder Partnern wahrgenommen wird.

Sie selbst haben die Weiterbildungs­initiative „gut beraten“ mitgetragen. Die Startschwierigkeiten scheinen überwunden zu sein. Der Aufwand war jedoch immens groß. Läuft Ihrer Ansicht nach jetzt alles nach Plan?

Ja, wir sind sehr zufrieden. Diese Initiative ist ein Beispiel dafür, dass die Versicherungswirtschaft in Gänze – also Versicherungsunternehmen, Vermittlerverbände und Vermittler gleichermaßen – an einem Strang zieht und ein solches Veränderungsprojekt auf den Weg bringen kann.

Wo sehen Sie neben der Demografie die größten Herausforderungen für die Branche als Arbeitgeber?

Die meisten Themen, die die Unternehmen umtreiben, ­stehen im Zusammenhang mit der Demografie. Hierzu gehören Weiterbildung, betrieb­liches Gesundheitsmanagement, betriebliche Altersvorsorge und auch die Digitalisierung. Letzteres wird sowohl die internen Prozesse als auch die Kundenbeziehungen verändern. Die daraus resultierenden Change-Prozesse sind intensiv zu begleiten.

Und die Chancen?

Die Versicherungswirtschaft wird sich auch weiterhin als guter Arbeitgeber – wir geben über einer halben Million Menschen Arbeit – profilieren. Und die Herausforderungen sind auch zugleich Chancen, denn wer könnte zum Beispiel mit dem Thema Demografie und Langlebigkeit besser umgehen als die Versicherer.

 
Ein Artikel von
Dr. Michael Niebler