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19. November 2014
„Pflegenotstand ist ein zentrales Beratungsthema“

„Pflegenotstand ist ein zentrales Beratungsthema“

Das staatliche Sozialversicherungssystem ist für den unausweichlich drohenden Pflegenotstand nicht gerüstet, davon ist der Versicherungsexperte Prof. Dr. Graf von der Schulenburg, Direktor des Instituts für Versicherungsbetriebslehre an der Leibniz Universität Hannover, überzeugt. Private Versicherungslösungen sind daher zur finanziellen Absicherung der Folgen der Pflegebedürftigkeit zwingend notwendig.

Herr Professor von der Schulenburg, zu welchem Schluss kommen Sie, wenn Sie sich die Pflegesituation vor dem Hintergrund der kommenden Pflegereformen, Pflege-Bahr und der zögerlichen privaten Pflegevorsorge ansehen?

Die Vorsorge für den Pflegefall bleibt eine riesige Herausforderung. Die demografische Entwicklung führt dazu, dass die Zahl der Beitragszahler zur Pflegeversicherung sinkt, die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt und Pflegepersonal rar wird. Zudem erschwert die Individualisierung der Gesellschaft die gesamte Pflegeproblematik. Trotz der politischen Reformen – die viel zu spät kommen und nicht nachhaltig wirken – wird die Finanzierungslücke bei den Bürgern immer größer werden. Altersarmut und der Pflegenotstand sind zentrale Beratungsthemen der Versicherungsbranche.

In einem ersten Schritt der Pflegereform geht es darum, familiäre und nachbarschaftliche Hilfe zu fördern. Ist das ein gangbarer Weg?

Die Anerkennung von familiärer und nachbarschaftlicher Hilfe zur Stärkung der Solidargemeinschaft ist ehrenwert und dringend notwendig; aber der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die Maßnahmen reichen nicht, die Herausforderungen in der Pflege zu lösen: Sowohl die derzeitige Personalausstattung und -vergütung als auch die Sicherstellung einer bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Versorgung bedürfen größerer Reformanstrengungen.

In einem weiteren Schritt soll der Begriff der Pflegebedürftigkeit geändert werden. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein und was bedeutet dies für die private Pflegezusatzversicherung?

Grundsätzlich stellt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff eine Verbesserung bezüglich der Bedarfsgerechtigkeit der Pflege dar. Die Neudefinition wird Personen mit eingeschränkten Alltagskompetenzen – zum Beispiel aufgrund einer Demenzerkrankung – gerecht. Aber es muss noch festgelegt werden, auf welche Leistungen künftig die Pflegebedürftigen in den neuen Bedarfsgraden Anspruch haben. Für eine breite Akzeptanz dürfen dabei die bisherigen Pflegebedürftigen nicht schlechter gestellt werden (Bestandsschutz). Das heißt, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff führt zu Mehrkosten, für die eine nachhaltige Finanzierung fehlt. Aufgrund der Veränderungen in der Bevölkerungs- und Haushaltsstruktur wird es zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen kommen. Hierfür ist das staatliche Sozialversicherungssystem nicht gerüstet. Private Versicherungslösungen sind daher zur Absicherung der finanziellen Folgen des Pflegerisikos dringend erforderlich.

Obwohl das Thema Pflege in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt ist, wird noch zu wenig für die private Pflegevorsorge getan. Warum geht dies so langsam voran?

Die falschen Weichenstellungen liegen lange zurück. Bei der Einführung der sozialen Pflegeversicherung hat Norbert Blüm wider besseres Wissen die Umlagefinanzierung gewählt. Eine damals diskutierte kapitalgedeckte Absicherung, wie die Privatversicherung sie bietet, wäre besser gewesen. Zudem gibt die soziale Pflegeversicherung falsche Signale: Die Menschen meinen, sie seien gegen das Pflegerisiko abgesichert, sind es aber nur unzureichend. Zudem zeigen empirische Untersuchungen, dass das Pflegerisiko von den Bürgern unterschätzt wird. Die Nachfrage nach privater Pflegevorsorge ist deshalb zu gering. Außerdem fehlt vielen Menschen das Bewusstsein, dass die Pflegeversicherung lediglich eine Art Teilkaskoversicherung darstellt und die Finanzierungslücke durch eine private Zusatzversicherung gedeckt werden muss.

Es sind eher Menschen mit Kindern, die sich finanziell gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit absichern. Warum ist das so und welche Folgen hat das?

Das ist wirklich ein interessantes Phänomen. Denn man würde annehmen, dass Menschen mit Kindern sich ja gegebenenfalls im Alter auf diese verlassen können, während Kinderlose im Alter häufig auf sich allein gestellt sind. Vielleicht wollen Menschen mit Kindern ihren Nachkommen im Alter nicht zur Last fallen. Oder es liegt daran, dass Kinder zu einem langfristigeren Denken veranlassen. Dies zeigt umso mehr, dass Aufklärung über die Gefahr einer schlechten Absicherung im Alter dringend erforderlich ist. Denn gerade Kinderlose sind auf die Solidargemeinschaft angewiesen, wenn sie zu Pflegefällen werden. Aber mit und ohne Kinder: Jeder sollte über die Absicherung des Pflegerisikos intensiv nachdenken und die Absicherung durch die soziale Pflegeversicherung durch private Vorsorge ausreichend ergänzen.

Wie können Assistance-Leistungen oder auch ein Bedingungswettbewerb die Pflegeversicherungsprodukte am Markt attraktiver machen?

Assistance-Leistungen sind nicht monetäre Leistungen, also Dienstleistungen, die vom Versicherungsunternehmen organisiert und zum Teil auch bezahlt werden. Dies entspricht vielfach dem Wunsch der Versicherten: Weg von reinen Geldleistungen hin zu operativer, spürbarer Hilfe im Versicherungsfall. Denn der Versicherte hat ja im Versicherungsfall ein konkretes Problem, das er gelöst haben möchte. Assistance-Leistungen sind in der Pflegeversicherung zum Beispiel ambulante Pflegedienste. Für die Versicherten bieten solche Leistungen einen Zusatznutzen. Versicherer sollten deshalb über Assistance-Leistungen verstärkt nachdenken. Auf der anderen Seite kosten solche Leistungen natürlich auch Geld. Da viele Versicherungsnehmer sehr preissensibel sind, das heißt die Produkte stark nach der Prämie vergleichen, werden Assistance-Leistungen sich wohl nur dann durchsetzen, wenn sie sowohl dem Versicherungsnehmer als auch dem Versicherungsunternehmen nutzen. Insbesondere ist aber auch der Vermittler gefordert, die Unterschiede zwischen den Versicherungsangeboten zu erläutern.

Welche Rolle spielt dabei die Provision bzw. Courtage?

Die Provision, die der Vermittler erhält, spielt die gleiche Rolle wie etwa bei der klassischen privaten Renten- oder Kapitallebensversicherung. Versicherungsvermittler müssen für ihre Beratungsleistung auskömmlich bezahlt werden. Nur dies sichert eine hohe Qualität der Beratung. Hier rate ich zur Offenheit und Transparenz. Ich begrüße sehr die Tendenz, Vermittler nicht nur für den Abschluss von Verträgen, sondern auch für die Bestandspflege zu entlohnen. Dies fördert das langfristige Denken der Vermittler und stabilisiert die Kundenbeziehungen.

In der Beratung fällt es vielen Vermittlern schwer, Pflegebedürftigkeit zu thematisieren. Wie kann das Thema am besten verpackt bzw. zum Kunden getragen werden?

Auch hier sehe ich im Grundsatz keine großen Unterschiede zwischen dem Risiko der Pflegebedürftigkeit und anderen Risiken, mit denen sich der Mensch ungerne auseinandersetzt, wie etwa dem Todesfallrisiko. Der Vermittler muss vor allem Faktenwissen haben: Er sollte über das sich ändernde Umfeld informieren, auf die Kosten einer Qualitätspflege verweisen und seinen Kunden verdeutlichen, dass das Geld, das man heute für eine Pflegeversicherung ausgibt, eine Investition in die Zukunft ist und keine unnötige Ausgabe darstellt.

Außerdem sollte der Vermittler einen ganzheitlichen Beratungsansatz verfolgen. Er muss den Menschen in seiner persönlichen Lage, bei seinen derzeitigen Überlegungen und Erwägungen abholen und die Pflegeversicherung als ein Instrument und nicht das Instrument der Altersvorsorge präsentieren.

Das Interview lesen Sie auch in der AssCompact Sonderedition Private Pflegevorsorge

 
Ein Artikel von
Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg