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Steuern & Recht
7. Februar 2011
Ein Urteil mit weitreichenden Folgen

Ein Urteil mit weitreichenden Folgen

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in Sachen BU eine richtungsweisende Entscheidung getroffen, die sich auch auf Dread Disease und Co. erstreckt. Das Urteil aus 2009 blieb bisher weitgehend unkommentiert und damit unbekannt. Ein AssCompact Beitrag von Gerhard Pscherer, Geschäftsführer der Pscherer GmbH.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in Sachen BU eine richtungsweisende Entscheidung getroffen, die sich auch auf Dread Disease und Co. erstreckt. Das Urteil aus 2009 blieb bisher weitgehend unkommentiert und damit unbekannt.

Am 28.10.2009 entschied der BGH1 zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung. Anlässlich eines BU-Neu-abschlusses verneinte der Kunde die Frage nach „Krankheiten, Unfallfolgen oder körperlichen Schäden des Rückens oder Nackens innerhalb der letzten fünf Jahre“. Tatsächlich war er jedoch in diesem Zeitraum in drei Behandlungsterminen wegen Rückenschmerzen mit Massageverordnungen, Medikamenten und jeweils einer Krankschreibung therapiert worden. Der Hausarzt des Kunden bestätigte zudem, dass er den Kunden über seine Rückenbeschwerden mit Wirbelblockierungen und Nervenirritationen jeweils unmissverständlich informiert hatte.

Wie schon zuvor das Land- und Oberlandesgericht bestätigte der BGH eine arglistige Täuschung durch den Kunden, „da ihm die nicht angegebenen Behandlungen bekannt gewesen seien und er es zumindest für möglich gehalten und damit gerechnet habe“, dass der Versicherer „die nicht offenbarten Umstände in seine Risikoprüfung einbeziehen werde und dies zu einer Einschränkung des Versicherungsschutzes hätte führen können.“ Mit wenigen Worten hebt der BGH die Prüfungsmerkmale einer arglistigen Täuschung hervor. Jeder beratende Versicherungsmakler sollte die vorstehenden präzisen Formulierungen des BGH bei Kundenberatungen stets beachten.

Im konkreten Fall spielte es dann auch keine Rolle mehr, dass der Kunde behauptete, er hätte den beratenden Versicherungsmakler über seine „harmlosen Muskelverspannungen“ informiert, woraufhin dieser ihm sagte, diese müssten nicht angegeben werden. Der Fall hätte sicher nicht den BGH erreicht, wären da nicht zwei Besonderheiten, die ihn richtig spannend machen:

1. Der arglistig getäuschte Versicherer kann sich insgesamt vom Vertrag lösen, ohne dass es auf eine Kausalität ankommt.

Der Kunde hatte im Prozess argumentiert, der Versicherer dürfe – wenn überhaupt – „nur eingeschränkt anfechten“, da die verschwiegenen Wirbelsäulenerkrankungen nichts mit der psychischen Erkrankung zu tun hätten, wegen der der Kunde BU-Leistungen verlangte. Deshalb sei der Kunde so zu stellen gewesen, wie wenn er korrekte Gesundheitsangaben gemacht und zum Beispiel hierfür einen Leistungsausschluss erhalten hätte. Das ließ der BGH mit überzeugender Begründung nicht gelten und führte seine bisherige Rechtsprechung fort: „Das Recht zur Arglistanfechtung eröffnet die Möglichkeit, sich von einer durch Täuschung beeinflussten Willenserklärung vollständig zu lösen.“ Auch für eine nur „eingeschränkte Anfechtung“ bleibt kein Raum, denn „die Versuchung eines Antragstellers, Vorerkrankungen zu verschweigen, würde hierdurch in nicht hinnehmbarer Weise gesteigert“.

2. Wie ist es zu bewerten, wenn der Versicherer rechtswidrig Gesundheitsdaten des Kunden ermittelt und gegen ihn verwertet?

Sehr ernsthaft war jedoch die weitere Behauptung des Kunden zu prüfen: Er erklärte, der Versicherer sei gar nicht berechtigt gewesen, seine Gesundheitsdaten zu ermitteln. Weil er dies dennoch, und damit rechtswidrig, getan hätte, gelte ein Verwertungsverbot. Im US-amerikanischen Recht ist das die Diskussion, was mit den „Früchten des verbotenen Baumes“ geschehen darf. Unzählige, selbst Schwerkriminelle, durften den Gerichtssaal als freie Männer und Frauen verlassen, weil illegal ermitteltes Beweismaterial nicht verwertet werden durfte. In US-Krimis spielt das regelmäßig eine Rolle.

In Deutschland ist die Situation differenzierter zu sehen, und der BGH ging zunächst von der Unwirksamkeit der generellen Schweigepflichtsentbindung bzw. Generalermächtigung aus. Der Versicherer hatte demzufolge rechtswidrig ermittelt und dadurch die arglistige Täuschung aufgedeckt. Hintergrund ist die legendäre Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 23.10.20062, in der es die jahrzehntelange Leistungspraxis der deutschen Lebensversicherer für „verfassungswidrig“ erklärte. Und zwar hinsichtlich der Erhebung personenbezogener Gesundheitsdaten bei Dritten (zum Beispiel Ärzten, Kliniken).

Grundsätzlich bestätigte das BVerfG das Recht des Versicherers, bei einer psychisch bedingten BU die Krankheitsgeschichte des Kunden „umfassend aufzuklären“, „soweit dies zur Einschätzung des Risikos bzw. zur Prüfung der Leistungspflicht des Versicherers erforderlich ist.“ Aber durfte der Versicherer seine objektiv rechtswidrig erhobenen Gesundheitsdaten verwerten? Ja, er durfte. Vor allem, weil der Versicherer auf die Wirksamkeit seiner Generalermächtigung „vertrauen“ durfte. Die Entscheidung des LG hierzu erfolgte am 01.12.2006, und damit rund fünf Wochen nach der Entscheidung des BVerfG vom 23.10.2006. Demzufolge ist es richtig, dass dem Versicherer hier kein Vorwurf zu machen war.

Heute ist alles anders

Bei aktuellen und künftigen Leistungsfällen sieht das anders aus. Jeder Versicherer kennt heute die Verfassungsgerichtsentscheidung und kann sich nicht mehr darauf berufen, im „Vertrauen“ auf eine wirksame Ermächtigung Gesundheitsdaten bei Dritten zu ermitteln. Mit dem neuen VVG kommt hinzu, dass der Gesetzgeber die Entscheidung des BVerfG umsetzen musste und noch schnell den § 213 anfügte. Für diesen stand das Verfassungsgericht sozusagen Pate, was diesen Paragrafen aufwertet gegenüber normalen Gesetzen. Heute kann kein Versicherer mehr glaubhaft vortragen, er kenne nicht die vorgenannte Verfassungsgerichts- wie BGH-Entscheidung und auch nicht § 213 VVG.

Was folgt daraus für die Praxis von Leistungsfällen wie Neugeschäft, wenn es um die Ermittlung personenbezogener Gesundheitsdaten bei Dritten geht?

Der BGH formuliert es bestens in seiner Rand-Nr. 29: Ein Versicherer kann sich „dieselben Informationen zum Gesundheitszustand“ neben der Generalermächtigung auch beschaffen durch „gezielte Einzelermächtigungen“ oder einer „über den Kunden laufenden Informationsübermittlung“, die ein Kunde „verlangen“ (!) kann. Bei diesem Rechtsanspruch des Kunden zu „verlangen“, verweist der BGH auf die Verfassungsgerichtsentscheidung (vgl. dazu BVerfG aaO Tz. 54 ff).

Jeder Kunde kann „verlangen“, dass bei der Erhebung personenbezogener Gesundheitsdaten bei Dritten die Informationsübermittlung über ihn läuft (= Selbstbeschaffung). Ein Kunde hat dann diese Informationen vollumfänglich „an den Versicherer weiterzuleiten oder aber im Interesse der Vertraulichkeit seiner Gesundheitsangaben von einer Freigabe abzusehen und damit zugleich im Ergebnis auf den erhobenen Leistungsanspruch zu verzichten (BVerfG aaO).“ (BGH1, 14)

In der Praxis hat die Selbstbeschaffung viele Vorteile. Auf Verfassungsebene werden die persönlichen Rechte eines jeden Kunden respektiert. Bei Neugeschäfts- wie Leistungsanträgen wird ein Gleichstand der Informationen bei Versicherern wie Kunden erreicht, sodass in der Folge die Bewertung dieser Informationen auf gleicher Datengrundlage erfolgen kann. Weiter kann ein Kunde unrichtige Informationen frühzeitig korrigieren und er kann bestimmte Informationen vor Weitergabe kommentieren, sodass der Versicherer im Ergebnis qualitativ bessere Informationen bekommt, was auch schon das Verfassungsgericht als wünschenswert unterstrich. Auch nach GenRe3 hat ein Versicherer einem Kunden, bei dem personenbezogene Gesundheitsdaten zu ermitteln sind (Neugeschäft wie Leistungsfall), von Anfang an sowohl die Generalermächtigung als auch die Einzelermächtigung wie die Selbstbeschaffung anzubieten. „Es ist daher geboten, ihm neben der Generalermächtigung beide Wahlmöglichkeiten anzubieten.“ (GenRe3, 36)

Verweigern Versicherer die Selbstbeschaffung, dann sind die verfassungsmäßigen Persönlichkeitsrechte der Kunden missachtet und es droht den Versicherern ein Verwertungsverbot hinsichtlich rechtswidrig erhobener Daten (BGH1, Leitsatz 2 und insbesondere die Randnummern 21 und 28). Weiter dürften Prozesse folgen zur Fälligkeit der Leistungen: § 14 VVG spricht von „notwendigen Erhebungen“; diese müssen vor einer Leistungspflicht „beendet“ sein. Tritt Fälligkeit ein, wenn ein Versicherer die „über den Kunden laufende Informationsübermittlung“ verweigert, wogegen der Kunde auf Selbstbeschaffung besteht? So wundert es nicht, dass die Aachen Münchener4 formuliert: „Selbstverständlich können Sie auch die erforderlichen Auskünfte und medizinischen Unterlagen selbst bei-bringen. Die jeweiligen Anforderungen erhalten Sie in diesem Fall von uns.“

So ist es richtig und so gehört sich das

Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass die anderen Versicherer in Deutschland diesem Beispiel folgen werden, auch aus Respekt vor unserer Verfassung und unseren beiden höchsten Gerichten, dem Bundesverfassungs-gericht und dem Bundesgerichtshof.

Den Artikel finden Sie auch in der AssCompact 02/2011 Seite 46f.

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1 BGH 28.10.2009 – IV ZR 140/08 –

2 BVerfG 23.10.2006 – 1 BvR 2027/02 -, in VersR 2006, 1669

3 GenRe BU-Leitfaden für die Praxis, 12.2007, 36

4 Erst-Schreiben der Aachen Münchener vom 22.01.2010 an den

Kunden Dr. M., nachdem dieser zunächst formlos seine mögliche

leistungspflichtige BU gemeldet hatte.