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Steuern & Recht
15. Februar 2019
Haftungsfalle: Beratungsverzicht im Online-Vertrieb

Haftungsfalle: Beratungsverzicht im Online-Vertrieb

Mit dem IDD-Umsetzungsgesetz ist die Lösung eines Beratungsverzichts im Fernabsatz scheinbar erleichtert worden. Warum Vermittler gerade davon keinen Gebrauch machen sollten, erläutert Prof. Dr. Matthias Beenken von der Fachhochschule Dortmund.

Die Europäische Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) wendet sich an alle Marktteilnehmer, die Versicherungen vertreiben, das heißt Versicherer, Makler und Vertreter. Das geradezu paradigmatische Grundprinzip des Handelns ist das bestmögliche Interesse des Kunden, an dem sich alle Vertreiber auszurichten haben – nachzulesen ist das in § 1a Abs. 1 Satz 1 VVG, der über § 59 VVG auch für alle Versicherungsvermittler und -berater gilt.

Bestmögliche Produktangebote anbieten

Die wohl größte praktische Bedeutung hat dieses Prinzip in der Kundenberatung. Diese soll dem Kunden helfen, das bestmögliche Versicherungsprodukt zu finden, das seinen Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Das gilt für Versicherer, Vertreter und Makler gleichermaßen.

Die IDD unterscheidet allerdings klar zwischen der Beratung im engeren Sinn und sonstigen Pflichten, den sogenannten Standards für den Vertrieb ohne Beratung (Art. 20 IDD). Die Beratung im engeren Sinn ist eine fakultative Leistung. Definiert ist sie als persönliche Empfehlung an den Kunden, warum die angebotene Versicherung am besten geeignet ist, seine Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen. Der Versicherer bzw. der Vermittler muss laut Art. 18 IDD den Kunden informieren, ob er eine Beratung zu den angebotenen Versicherungsprodukten anbietet.

Frage- und Begründungspflicht auch im Fernabsatz

Dagegen sind die Standards für den Vertrieb ohne Beratung obligatorisch. Dabei handelt es sich um drei Pflichten: Erstens soll der Kunde nach seinen Wünschen und Bedürfnissen befragt werden. Zweitens muss ihm ein dazu passendes Angebot unterbreitet werden. Drittens hat der Kunde Anspruch auf eine objektive Information über das angebotene Versicherungsprodukt in verständlicher Form, damit der Kunde seine „wohlinformierte Entscheidung“ treffen kann, das heißt also eine Begründung des Angebots. Das Ganze darf der Komplexität des Versicherungsprodukts und der Kundenkategorie angepasst werden, es muss also nicht für jede Art Versicherung und Kunde ein unwirtschaftlich hoher Aufwand betrieben werden. Offensichtlich hat die EU damit unter anderem den Fernabsatz von Versicherungen zum Beispiel über das Internet erleichtern wollen.

Der deutsche Gesetzgeber hat dagegen an einer anderen Logik festgehalten. Laut §§ 6, 61 VVG muss ein Versicherer bzw. ein Vermittler stets anlassabhängig nach Wünschen und Bedürfnissen fragen, den Kunden beraten, den Rat begründen und das Ganze dokumentieren. Dazu muss nur der Vermittler und entgegen der Richtlinienvorgabe nicht der Versicherer die Information bei der ersten Vorstellung geben, dass er eine Beratung anbietet. Diese Information ist allerdings sinnentleert, denn eine Wahl hat der Vermittler nach deutschem Recht gar nicht. Im Gegenteil, die Information kann den Kunden sogar in die Irre führen, als sei es etwas Besonderes, dass dieser Vermittler eine Beratung anbietet.

Verzicht ist richtlinienwidrig

Dafür gibt es aber eine Verzichtsmöglichkeit des Kunden, die allerdings alle genannten Pflichten umfasst, das heißt sowohl die Beratung im engeren Sinn als auch die Standards für den Vertrieb ohne Beratung. Der Verzicht wurde mit der IDD-Umsetzung sogar erleichtert: Statt in Schriftform muss er im Fernabsatz nur in Textform erfolgen. Das ist im Online-Vertrieb besonders leicht umsetzbar.

Allerdings ist dies eine trügerische Erleichterung. Denn tatsächlich ist der Verzicht auf alle genannten Pflichten nicht IDD-konform, meint auch Angela Regina Stöbener, Referentin im Bundeswirtschaftsministerium, in ihrer Doktorarbeit, die vor Kurzem im Verlag Versicherungswirtschaft erschienen ist. „Der Rechtsanwender wird im Stich gelassen“, so ihr Fazit zu diesem Thema.

In der Praxis kann man verschiedene Fälle beobachten, wie mit den Rechten der Kunden umgegangen wird. Vor allem auf manchen Makler-Homepages hat man den Eindruck, dass deren Betreiber überhaupt nicht wahrgenommen haben, dass es eine IDD oder ein deutsches VVG gibt. Der Nutzer kann wie in alter Zeit irgendwelche Versicherungen vergleichen und online abschließen. Eine Befragung findet nicht statt, eine Begründung gibt es schon einmal gar nicht.

Dann findet man bei verschiedenen Versicherern und Vermittlern auf den Seiten eine Verzichtserklärung vor, die durch einfaches Anklicken durchführbar ist. Dieses Anklickfeld erinnert fatal an die Bestätigung bei Online-Käufen, dass der Käufer die allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) angesehen und akzeptiert hat. Der geübte Online-Käufer kennt es als ein lästiges Übel, das ohne nähere Beachtung durchgeführt werden muss, um den Online-Kauf abzuschließen. Es dürfte wohl kaum einen Online-Käufer geben, der die AGB ernsthaft herunterlädt und liest, bevor er diese Bestätigung abgibt. Die rechtlichen Folgen sind dank AGB-Rechtsprechung in der Regel kaum spürbar.

Ganz anders aber bei dem umfassenden Beratungsverzicht „per Klick“. Hier verzichtet der Kunde auf sein Recht, dass der Anbieter zunächst einmal durch geeignete Fragen in Erfahrung bringt, was der Kunde wirklich braucht, und ihm dann ein verständlich begründetes Angebot unterbreitet sowie das Ganze dokumentiert. Ob die Versicherung zum Bedarf des Kunden passt, wird nicht mehr geprüft. Der Kunde ist damit allein gelassen. Dieser Bedeutung wird er sich kaum bewusst sein, wenn er das von Online-Käufen bekannte Anklickfeld angeboten erhält.

Aber auch Versicherer und Vermittler begeben sich damit ungewollt in eine weitgehende Haftung. Gibt es keine aussagefähige Beratungsdokumentation, geht die Rechtsprechung zunehmend davon aus, dass tatsächlich keine Beratung stattgefunden hat. Kann der Kunde nun aber nachweisen, dass ihm durch ein für seine Bedürfnisse ungeeignetes Versicherungsprodukt ein Schaden entstanden ist, muss sich der Anbieter seinerseits entlasten, dass er die nötige Beratung trotz fehlender Dokumentation erbracht hat. Da dies meist nicht gelingen wird, kann man auch von einer faktischen Beweislastumkehr sprechen. Im Online-Vertrieb kommt erschwerend hinzu, dass dort geradezu serienmäßig Haftungsprobleme erzeugt werden.

Online-Vertrieb – So geht es besser

Deswegen ist der Verzicht keine sinnvolle Lösung. Vielmehr sollten Versicherer und Vermittler im Online-Vertrieb die Standards für den Vertrieb ohne Beratung laut Art. 20 IDD umsetzen.

Zunächst sollten Fragen gestellt werden, ob der Kunde wirklich nur das eine bestimmte Versicherungsprodukt wünscht oder eine Lösung für eine umfassendere Bedarfssituation, bei der auch weitere Produkte infrage kommen und unter Umständen Prioritäten gebildet werden müssen. Entweder bildet man das mit einer umfangreicheren Frage-Antwort-Logik ab oder leitet den Kunden in eine persönliche Beratung um, entweder innerhalb desselben Mediums (Chat, Videotelefonat) oder außerhalb (Präsenztermin, Telefonat). Zum Produkt müssen ausreichend Fragen gestellt werden, um ein passendes Angebot zu unterbreiten; sodann müssen für einfache Massenprodukte standardisierte Begründungen formuliert werden. Der Kunde sollte das Ganze (Anlass, Fragen und Antworten, Angebot und Begründung) zusammengefasst als Dokumentation per Download oder Mailzusendung erhalten. So ist das höherrangige Europäische Recht gewahrt und nebenbei auch der Kunde viel besser bedient, als wenn er per „Klick und weg“ ein Produkt kauft, ohne zu wissen, warum.

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 02/2019, Seite 106 f. und in unserem ePaper.

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Ein Artikel von
Prof. Dr. Matthias Beenken