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10. März 2016
Telematik – Segen oder Fluch für die Versicherungsvermittlung?

Telematik – Segen oder Fluch für die Versicherungsvermittlung?

Ein neuer Begriff hat das Vokabular der Versicherungswirtschaft erobert: Telematik. Dahinter steht das Bemühen, die immer feingliedrigere Selektion von Risikogruppen auf ein ganz neues Niveau zu heben, um gute – aus Versicherersicht profitable – Risikogruppen bevorzugt zeichnen zu können.

Diese sukzessive Auflösung der Solidargemeinschaft möglichst großer Risikokollektive hat schon vor dem Einsatz von Telematik dazu geführt, dass für einige Berufsgruppen, zum Beispiel Hebammen, Versicherungsschutz kaum noch bezahlbar ist. Und schon heute wird der Versicherungswirtschaft vorgeworfen, sie komme ihrem gesellschaft­lichen Auftrag nicht mehr ausreichend nach.

Telematik in der Kfz-Versicherung

Mit dem Einverständnis des Versicherungsnehmers übermittelt ein in das Fahrzeug eingebautes Telematik-Gerät dem Kfz-Versicherer laufend Daten über das Fahrverhalten. Zunächst wurde bisher nur positives Fahrverhalten honoriert. Sparkassen-Direkt, Signal Iduna und VHV waren die Vorreiter; seit HUK-Coburg und Allianz auf den Trend aufspringen, dürfte die Lawine von Pay-as-you-drive-Tarifen nicht mehr auf­zuhalten sein. VHV startete zum 01.01.2016 und folgt so dem englischen und spanischen Markt, wo bereits mit detaillierten Bonus/Malus-Systemen individuelle Tarifierungen erfolgen. Die Verbraucher sind neugierig. Laut einer Bitcom-Studie wären 34% der Deutschen grundsätzlich damit einverstanden, dass Daten zu Fahrzeug, Fahrverhalten und Standort gesammelt und weiterverarbeitet werden.

Telematik in der Krankenversicherung

Deutlich höher als in der Kfz-Sparte ist der Selektionsgewinn für die Versicherer in der Krankenversicherung. Dabei sind die Daten ungleich sensibler. Zielgruppe sind junge Menschen, die beim Teilen von persönlichen Daten mit anderen deutlich offener sind. Sie tragen iWatches, Wearables oder nutzen Smartphone-Apps, die Gesundheits-, Ernährungs- und Aktivitätsdaten erfassen und übermitteln können. Mehrere AOKs und Ersatzkassen wie die TK sind bereits aktiv, PKV-Versicherer wie Generali und AXA folgen. Zunächst wird auch hier positives Verhalten mit Prämien oder Prämienrückvergütung belohnt. Haben sich diese Systeme etabliert, kann davon ausgegangen werden, dass Versicherer im Rahmen des rechtlich Möglichen in die individuelle Tarifierung (Pay-as-you-live-Tarife) einsteigen. Zwar positionieren sich SDK, Allianz Kranken oder die Continentale bisher noch klar gegen Telematik-Tarife in der PKV. Aber wie standhaft bleiben sie, wenn Generali Erfolg haben sollte? So hat die Allianz ihre zunächst ablehnende Position in der Kfz-Ver­sicherung schnell kassiert, als HUK-Coburg in die Telematik-Welt einstieg.

Warum sind Telematik-Tarife so kritisch zu sehen? Drei Aspekte seien hervorgehoben.

Ist der Datenschutz gewährleistet?

Das Recht auf informationelle Selbst­bestimmung ist die Grundlage für die bestehenden Datenschutzgesetze. In der EU-Datenschutzrichtlinie ist der Schutz von persönlichen Daten sogar als ein Grundrecht aufgenommen worden. Doch wem gehören die Daten, die via Telematik erfasst werden? Für welche anderen Zwecke könnten sie genutzt werden? Wie sicher sind sie?

S-Direkt lässt die Datenerhebung zwar über einen Dienstleister vornehmen, der nur Scores weiterleitet. Auch Generali reklamiert, dass sie keinen direkten Zugang zu den Gesundheitsdaten hat. Ihr Dienstleister Vitality vergibt an seine Mitglieder je nach Lebensstil lediglich einen Status. Aber: Vitality ist ein südafrikanisches Unternehmen, dessen Server nicht in der EU stehen und so anderen Sicherheitsstandards unterliegen. AXA und andere planen die Datenerfassung über Smartphone-Apps. Diese Daten landen in der Cloud oder auf Apple- oder Samsung-Servern in Nordamerika oder Asien. Das Thema ist sensibel: Der EuGH hat im Oktober 2015 das Safe Harbor Agreement mit den USA für ungültig erklärt, weil er den Schutz persönlicher Daten von EU-­Bürgern auf Servern in den USA vor dem Zugriff lokaler Behörden als nicht ausreichend ansieht.

Und was hindert Google oder Apple, die gesammelten Daten für sich selber auszuwerten und die selektierten „guten“ Risiken mit passgenauen und preislich besonders attraktiven Produkten an­zusprechen? Produktgeber dürften sich finden lassen. Schließlich akkumulieren Google, Apple und Co. den größten Datenschatz überhaupt.

Wie frei sind Versicherungsnehmer bei der Produktwahl?

Die aufkommende Telematik-Welt teilt die Versicherungsnehmer in drei verschiedene Gruppen:

  • Personen, die sich als positives Risiko einschätzen und davon profitieren wollen. Sie haben keine Vorbehalte gegen eine laufende Zurverfügung-Stellung persönlicher Daten an Dritte. Die günstigere Versicherungsprämie kostet eben den Preis der Verhaltenskontrolle.
  • Personen, die persönliche Daten grundsätzlich als ihre Privatsphäre betrachten und diese Dritten nur selektiv und soweit erforderlich zur Verfügung stellen wollen, unabhängig davon, ob sie sich für ein gutes oder weniger gutes Risiko halten.
  • Personen, die über ein erforderliches Mindestmaß hinaus keine persön­lichen Daten zur Verfügung stellen wollen, weil sie sich für ein schlechtes Risiko halten.

Genau hier liegt das Problem: Die Entscheidung für oder gegen einen Telematik-Tarif sollte jeder frei und ohne persönliche Nachteile treffen können – tragendes Element des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Eine echte Wahlfreiheit besteht aber nur, solange noch klassische Versicherungstarife mit adäquaten Preisen existieren.

Mit zunehmender Akzeptanz von Telematik-Tarifen dürfte sich das Blatt wenden. Versicherer kalkulieren insgesamt knapp. Je größer die Gruppe ist, die sich mit Telematik-Tarifen günstigere Prämien sichern, desto höher müssen die Prämien für die Nutzer klassischer Tarife steigen. So entsteht ein faktischer Druck auf jeden, der sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahren möchte, und zwingt ihn letztlich, dieses Recht aufzugeben. So dürften sich Telematik-Tarife zum Standard entwickeln mit der Folge, dass die Prämien für die so ausgesiebten verbleibenden Ver­sicherten unbezahlbar werden, wenn Deckungsschutz für sie denn überhaupt noch erhältlich ist.

Wo bleibt die unabhängige Beratung?

Versicherungsmakler können nur in einem funktionierenden Markt sicherstellen, dass adäquater Versicherungsschutz zu angemessenen Preisen verfügbar ist. Und nur durch das seit Jahrzehnten bewährte System der Courtage sind sie in der Lage, allen Kunden – nicht nur den „Guten“ – umfassende Beratung und Service im Versicherungsfall zu bieten.

Sollten aber große Datensammler wie Google und Co. selber in die Vermittlung guter, leicht platzierbarer Telematik-­Risiken über Online-Wege einsteigen, verbleiben Versicherungsvermittlern die tendenziell schwerer platzierbaren Risiken. Die Courtage als Vergütungsform – insbesondere im Verbrauchergeschäft – wäre nicht mehr auskömmlich. In der Konsequenz dürfte sich ein Honorarmarkt für schlechter platzierbare Risiken entwickeln und damit für diese ohnehin schon benachteiligte Gruppe eine zusätzliche Zugangshürde zu unabhängiger Beratung bilden.

Fazit

Ohne Gegenreaktionen oder Selbstbeschränkungen der Branche treiben wir in sensiblen Sparten auf eine vollständige Entsolidarisierung der Versichertengemeinschaft zu, eine Pervertierung des Versicherungsgedankes! Dann bestünde der Vorwurf zu Recht, dass die Versicherungswirtschaft ihren gesellschaftlichen – aber auch ihren sozialpolitischen – Auftrag nicht oder nur unzureichend erfüllt. Bis zum Ruf nach staatlichen Regelungen wäre es dann nur noch ein kleiner Schritt. Für das sowieso nicht sonderlich positive Image der Versicherungswirtschaft desaströs.

Wie kann man diesen Trend aufhalten, ohne gleich wieder nach dem Staat zu rufen? Ein Zusammenspiel zwischen Ver­sicherungsvermittlerverbänden und Verbraucherschützern, aber auch Datenschützen drängt sich auf – historisch nicht unbedingt natürliche Verbündete. Vor allem aber mit intensiver Aufklärung in der Öffentlichkeit und in vielen persönlichen Gesprächen: Zu leicht wird nur der unmittelbare – zeitlich befristete – Vorteil gesehen und die Konsequenzen ausgeblendet, wenn persönliche sensible Daten preisgegeben werden.

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 03/2016, Seite 35

 
Ein Artikel von
Peter Wesselhoeft