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25. Januar 2018
Die spontane Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers – Von gestern?

Die spontane Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers – Von gestern?

Die spontane Anzeigepflicht war lange ein Thema, das insbesondere im Zusammenhang mit Berufsunfähigkeitsversicherungen zu Rechtsstreitigkeiten führte. Seit Einführung des VVG 2008 gibt es sie jedoch nicht mehr. In der Praxis versuchen Versicherer trotzdem hin und wieder, sie heranzuziehen, um vom Vertrag zurücktreten zu können, erklärt Kathrin Pagel, Fachanwältin für Versicherungsrecht, Partnerin in der Kanzlei Michaelis

Die spontane Anzeigepflicht im Versicherungsvertragsrecht, das heißt die Pflicht, ungefragt Auskünfte zu erteilen, gibt es seit Einführung des VVG 2008 nicht mehr. Allerdings kommen Fälle in der Praxis vor, bei denen sich für den Versicherer die Frage stellt, ob eine solche – gegebenenfalls über Umwege – nicht doch wieder eine Rolle spielen kann, wie ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Celle zeigt: Der Kläger hatte im Jahr 2013 eine Pflegegeldversicherung für sein Kind abgeschlossen. Bei den durchgeführten U6- und U7-Untersuchungen wurde eine globale Entwicklungsverzögerung mit der Bemerkung „macht zuletzt tolle Fortschritte“ angemerkt. Der Antrag auf Pflegegeldversicherung, den der Kläger für sein Kind nach diesen Untersuchungen stellte, enthielt einen detaillierten Fragenkatalog zu Gesundheitsangaben, die der Kläger alle richtig und vollständig beantwortete. Noch vor Antragstellung und vor Abschluss der Versicherung wurde dem Kind Blut für eine genetische Untersuchung abgenommen, die jedoch im Zeitpunkt der Antragstellung und bei Vertragsschluss noch nicht abgeschlossen war. Es waren nur weitere Untersuchungen vorgesehen.

Chromosomenuntersuchung noch nicht abgeschlossen: Versicherer beruft sich auf arglistige Täuschung

Die danach erfolgte Chromosomenuntersuchung des Kindes ergab schließlich eine Erkrankung, die auch als De-Grouchy-Syndrom Typ II bezeichnet wird. Diese hatte zu einer Entwicklungsstörung und motorischen Defiziten geführt. Da mit der Erkrankung die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt waren, machte der Kläger Ansprüche auf Versicherungs­leistungen aus dem abgeschlossenen Vertrag geltend. Der Versicherer berief sich daraufhin auf eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung des Versicherungsnehmers, trat vom Vertrag zurück und lehnte schließlich die Leistung ab. Letztlich focht der Versicherer den Vertrag wegen einer arglistigen Täuschung des Versicherungsnehmers bei Vertragsschluss an und berief sich zur Begründung auf die Nichtangabe gefahrerheblicher Umstände.

Nachvollziehbar ist, dass der Versicherer das Risiko bei Kenntnis der Chromosomenerkrankung nicht hätte übernehmen wollen. Gleichzeitig hatte aber auch der Kläger bei Vertragsschluss keine Kenntnis von der Krankheit. Eine Entwicklungsverzögerung kann viele Ur­sachen haben und auch folgenlos wieder verschwinden. Dem Versicherungsnehmer war somit keine der erfragten Erkrankungen bekannt. Die Eltern des Kindes hatten alle erfragten Umstände, soweit erkennbar, vollumfänglich beantwortet. Der Versicherer hätte grundsätzlich nur dann Rechte aus der Nichtangabe der Entwicklungsstörung ableiten können, wenn es sich um anzeigepflichtige Umstände gehandelt hätte. Genau das war hier aber fraglich.

Voraussetzungen für Anzeigepflicht

Für die vorvertraglichen Anzeigepflichten des Versicherungsnehmers hat der Gesetzgeber in den Regelungen des VVG 2008 unter § 19 konkrete Voraussetzungen geschaffen. Danach besteht eine Anzeigeobliegenheit nur noch hinsichtlich von Fragen, die der Versicherer in Textform gestellt hat. So muss der Ver­sicherer konkrete Fragen nach den für ihn gefahrerheblichen Umständen stellen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es eine spontane Anzeigepflicht, wie diese vor Einführung des VVG 2008 noch befürwortet wurde, nicht mehr gibt.

Nun tauchen in der Praxis Fälle wie dieser auf, in denen der Versicherer nachträglich feststellt, dass er sich bei Kenntnis von bestimmten nicht angezeigten Umständen gegen einen Vertragsabschluss entschieden hätte. In diesen Fällen ist es wiederholt zu einer Arglistanfechtung gekommen, sofern die tatsächlich in Textform gestellten Fragen des Versicherers eine Falschbeantwortung durch den Versicherungsnehmer nicht erkennen ließen und dem Versicherer somit das Rücktrittsrecht verwehrt ist.

Fragen des Versicherers sind als abschließend anzusehen

Das OLG Celle hat in seinem Urteil grundsätzlich daran festgehalten, dass es eine spontane Anzeigepflicht nicht gibt. Zudem käme eine über den schriftlichen Fragenkatalog hinausgehende Aufklärungspflicht nur in absoluten Ausnahmefällen, praktisch aber gar nicht mehr in Betracht. Dies wurde damit begründet, dass es der Versicherer in der Hand hat, über die von ihm gestellten Fragen konkret Auskünfte über Umstände zu erhalten, die für den Vertragsschluss für ihn von Interesse sind. Eine weitergehende Aufklärungspflicht bestehe demnach nur bei Umständen, die einerseits offensichtlich gefahrerheblich, andererseits aber so ungewöhnlich sind, dass eine auf sie abzielende Frage nicht erwartet werden könne.

Diese Einschränkung ist leider nicht wirklich greifbar und damit sehr unpraktikabel. Insbesondere ist nicht erkennbar, in welchen Fällen eine solche Ausnahme anzunehmen ist. Der Versicherungs­nehmer und auch der durchschnittliche Makler wird eine vom Versicherer gestellte Frage immer als abschließend ansehen und sie beantworten. Das hat das OLG genauso festgestellt, wonach einerseits der Versicherungsnehmer berechtigt sein muss und andererseits auch darauf vertrauen kann, dass die gestellten Fragen des Versicherers als abschließend anzusehen sind. Ist dies der Fall, besteht schon gar kein Anhaltspunkt für den Versicherungsnehmer, darüber hinausgehende Umstände mitzuteilen. Das OLG Celle hat zudem bestätigt, dass es der Versicherer in der Hand hat, mittels seines Fragenkataloges Umstände zu erfragen, die er für seinen Vertragsschluss als wichtig und erheblich ansieht. Stellt er keine Fragen zu weiteren Umständen, muss demnach der Versicherungsnehmer davon ausgehen können, dass diese gerade nicht gefahrerheblich sind.

Tatsächlich hatte das OLG Celle in dem Fall folgerichtig eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung verneint. Dies wurde damit begründet, dass der Versicherer gerade nicht nach einer bloßen Entwicklungsverzögerung gefragt hatte. Weiterhin muss eine Entwicklungsverzögerung nicht krankheitsbedingt sein. Es gibt doch eine Reihe von natürlichen Ursachen, insbesondere auch die Möglichkeit, dass eine Entwicklungs­verzögerung sich wieder „auswächst“ und das Kind sich in der Folge normal entwickelt. In dem zu entscheidenden Fall hatte der Versicherer einen sehr umfangreichen Fragenkatalog in seinem Antragsformular verwendet. In der Praxis findet sich eine Reihe von Versicherern, die ihren Fragen­katalog beispielsweise auf ein bis zwei Fragen reduziert haben. Für diese Fälle, in denen der Versicherer auf die Verwendung eines umfassenden Fragenkatalogs verzichtet, ist festzu­stellen, dass der Ver­sicherer gerade auf die Mitteilung weiterer Umstände ver­zichtet. In diesen Fällen wird sich der Ver­sicherer jedenfalls nicht über den Umweg der spontanen Anzeigepflicht später auf nicht angezeigte Umstände berufen können.

BGH-Urteil mit Spannung erwartet

Die Notwendigkeit für die Wiedereinführung einer spontanen Anzeigepflicht erschließt sich nicht. Bisher hat sich der BGH zu diesem Rechtsproblem noch nicht äußern können. Eine BGH-Entscheidung zu diesem Thema darf mit Spannung erwartet werden. Alle Lager dürften sich jedoch einig sein, dass es grundsätzlich eine spontane Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers heute nicht mehr gibt, allenfalls Ausnahmefälle bedürfen einer juristischen Aufarbeitung.

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 01/2018, Seite 50 f.
 
Ein Artikel von
Kathrin Pagel