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8. Juli 2015
Pflegeversicherung: Zwischen Hochglanz und Realität

Pflegeversicherung: Zwischen Hochglanz und Realität

Unternehmensberater Ulrich Welzel betreut ehrenamtlich einen 94-jährigen Pflegebedürftigen. Was er im Pflegeheim erlebt, hat mit den Werbebildern, die Pflegeheime und Versicherer – im Vertrieb der Pflegeversicherung – aufbauen, nichts zu tun. In einem Kommentar für AssCompact schildert er auf emotionale Art die Pflegesituation, will aber etwas sehr Rationales erreichen: mehr Realität in der Pflegeberatung.

Was haben Pflegeheime und Versicherungswirtschaft gemeinsam? Beide so unterschiedlichen Unternehmenswelten preisen das Thema Pflege mit Hochglanzprospekten an. Die Bilderwelt der Pflegeheimbetreiber zeigt eine heile Welt mit strahlenden, lachenden und scheinbar immer gut gelaunten alten Menschen. Von den Prospekten der Pflege- und Sterbegeldversicherer lächeln uns bestens aufgelegte, topgekleidete neue „Alte“ (1) an, die scheinbar in einem Dauerpartyzustand leben. „Mit diesen Bildern könnte ich auch ein Fitnessstudio für die Generation 60plus bewerben“, sagt mir schmunzelnd der Art-Direktor einer großen Werbeagentur. Wie sieht die Realität in deutschen Pflegeheimen aber wirklich aus?

Gerade komme ich aus einem (nach außen hin) guten Pflegeheim, in dem ich als ehrenamtlicher Hospizbegleiter seit einigen Monaten Robert S. (94) betreue. Selten ist im Heim (300 Bewohner) ein herzliches Lachen zu hören. Schau ich in die Gesichter der meist alten und sichtbar kranken Frauen, kann ich nur erahnen, wie schwer das Leben im Heim sein muss. Weg aus der gewohnten Umgebung, leben sie heute statt auf 60 qm eingeschränkt auf 16 qm. Mit einem kleinen Tisch, einer mitgebrachten Anrichte, eventuell fünf persönlichen Bildern und einem alten Fernseher.

Der ewige Kampf

Die 90-jährige Frau Paul fällt mir oft auf, weil sie immer aussieht, als würde sie gleich aus dem Rollstuhl rutschen. Nur mit den Füßen kann sie sich noch im Rollstuhl fortbewegen. Wenn wir uns begegnen, lächelt sie krampfhaft. Sie kämpft sichtbar um jeden Zentimeter, den sie heute wieder im Schneckentempo über den Flur schafft. Mehrfach am Tag legt sie die 120 Meter von ihrem Zimmer bis zum Empfang zurück. Heute ist sie frustriert. Hat sie doch letzte Woche die – für Gesunde – wenigen Meter mehrfach am Tag zurückgelegt.

Heute klappt gar nichts. Als sie mir das erzählt, kullern ihr die Tränen herunter. „Aber ich muss das doch noch schaffen. Ich kann doch nicht aufgeben. Als ich hier eingezogen bin, bin ich öfters noch in den Park und in die Cafeteria gegangen. Dann kam der Moment, wo ich vom Stock auf den Rollator und später zum Rollstuhl wechseln musste. Das hat mich jedes Mal völlig fertig gemacht. Bei jedem Wechsel ging ein Stück Mobilität, Freiheit und Mut verloren. Immer öfters sitze ich jetzt allein in meinem Zimmer, und weine, weil ich gar nicht mehr aus dem Heim rauskomme. Früher habe ich gerne gekocht und Freunde eingeladen, damit ich aufkochen konnte. Wenn ich den Fraß hier sehe, dann hat das mit Lebensqualität nichts zu tun.“ Erschrocken über ihre Wortwahl entschuldigt sich Frau Paul sofort für ihren verbalen Ausrutscher. „Ich zahle monatlich 3.250 Euro für den Heimplatz. Warum gibt es dann so schlechtes Essen für uns?“(2), fragt mich Frau Paul.

Ich erzähle ihr von einem Heimbewohner in Nürnberg, der sein Essen fotografiert und die Fotos bei Facebook reingestellt hat (vgl. DIE WELT). Der Erfolg ist so groß, dass ihm 20.000 Menschen folgen und die Presse das Heim an den Pranger gestellt hat. Jetzt sehe ich ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht. Wir verabschieden uns und so kämpft sie sich im Schneckentempo weiter in Richtung Rezeption.

Der größte Wunsch

Kurz danach treffe ich Herrn Werner (81). Seit ich Herrn Werner kenne, sitzt er im Rollstuhl, immer an derselben Stelle im Gang, mit Blick in den Garten und nippt an der Bierflasche. „Alles, was ich noch habe, ist mein Flascherl Bier am Tag. Gerne auch mal zwei.“ Sein größter Wunsch ist, dass ihm ein Pfleger ein Bier seiner Lieblingsbrauerei mitbringt. Seine Bitten an die Heimleitung, doch einen Kasten seines Lieblingsbieres zu kaufen (er würde es selbstverständlich auch bezahlen), werden seit Jahren ausgeschlagen. Frustriert nippt er weiter an seiner Bierflasche und schaut enttäuscht aus dem Fenster. Ich schwöre mir, ihm nächste Woche eine Flasche seines Lieblingsbieres mitzubringen.

Verlust und Wehmut

Zwanzig Meter vor Robert S.’ Zimmer höre ich schon, dass Robert S. da ist. Die Lautstärke des Fernsehers scheint ausgereizt zu sein und beschallt weite Teile des langen Flurs. Trotzdem sitzt Robert S. lethargisch in seinem alten Sessel und scheint zu dösen. Die Luft im Zimmer steht. Bei 28° Außentemperatur schaffte es in den letzten sieben Stunden kein Pfleger, die Balkontür zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen. So sitzt Robert S. versunken in seinem alten Sessel und wartet schon nachmittags darauf, um 19 Uhr ins Bett gelegt zu werden.

Als Kaffeeliebhaber freut sich Robert S. auf seinen Nachmittagskaffee, den eine Pflegerin um 14.30 Uhr vorbeibringt. Lauwarmer dünner Kaffee und drei Kekse lassen den sonst ruhigen Robert S. wütend werden. „So ist das jeden Tag. Die wissen, dass ich gerne einen g‘scheiten Kaffee trinke, aber seit fünf Jahren gibt es nur diese Brühe. Das erinnert mich an die Zeit nach dem Krieg, als wir Getreidekaffee trinken mussten, weil wir nichts hatten.“

In den nächsten Minuten kann ich Robert S. dazu bewegen, ein paar Schritte mit dem Rollator zu gehen, um dann von mir im Rollstuhl um den See gefahren zu werden. Auch er kämpft heftig. „Früher bin ich jeden Tag eigenständig um den See gelaufen, habe mir eine schattige Bank gesucht und dort den Nachmittag verlebt. Das wurde im Laufe der Zeit immer weniger. Wenn ich mich nur dran erinnere, wie oft ich früher auf die Berge gekraxelt bin, und heute?“ Mit Wehmut geht es zurück ins Pflegeheim.

Bei der Rückkehr bleiben wir vor dem Prospektständer des Pflegeheims stehen und lachen herzlich. Warum? Von der Imagebroschüre des Pflegeheimbetreibers strahlt uns eine gutaussehende 75-Jährige an, die sichtlich erfreut ist, im Pflegeheim zu sein. „In den Jahren, in denen ich hier lebe, habe ich noch keinen meiner Mitbewohner so lachen gesehen“, lautet Robert S.’ sarkastischer Kommentar.

Das sind nur drei von vielen Tausend Beispielen von Betroffenen in deutschen Pflegeheimen. Wie es den meisten der 760.000 betreuten Menschen in Pflegeheimen geht, beschreiben Menschen wie der Pflegekritiker Claus Fussek (3) in seinen Büchern.

Vertriebsalltag versus Realität

Zwischen den Marketingbroschüren der Pflegeheimbetreiber und Versicherer und dem oben beschriebenen Pflegeheimalltag klaffen Welten. Die krasse Realitätsfremdheit spiegelt sich auch im Vertriebsalltag wider und führt bei den meisten Produktanbietern zu großem Frust. Frust deshalb, weil trotz größter vertrieblicher Anstrengung viel zu wenig Umsatz generiert wird.

„Wir tun doch alles, was die Makler fordern und trotzdem vermitteln sie keine Pflege“, beschweren sich in einer Stunde fünf Vertriebsleiter von fünf Gesellschaften, die gemeinsam auf einer Roadshow sind. Auf die Frage, warum die Vertriebsschulungen zur Absicherung von biometrischen Risiken und Pflege in diesem Vier-Sterne-Hotel stattfinden, fragt ein Vertriebsleiter erstaunt zurück: „Ja, sollen wir denn unsere Vertriebsschulungen in Pflegeheimen abhalten?“ und beantwortet sich seine Frage im selben Atemzug: „Das können wir den Maklern nicht antun!“

Obwohl jeder Marketingprofi weiß, dass Botschaften bestens mit realen Bildern transportiert werden, wird es vermutlich bei der ausschließlich positiven Darstellung der Pflegesituation mit fitten, lachenden, partytreibenden neuen „Alten“ bleiben.

Geschäftlich und Privat

Interessant bei den Gesprächen mit den Vertriebsleitern war, dass sie im privaten Umfeld von den praxisnahen Darstellungen einiger Produktanbieter aus anderen Bereichen regelrecht begeistert waren.

Ein Vertriebsleiter schwärmt von seinem Olivenbauer, der seinen potenziellen Kunden (auf bezahlten Endkundenreisen) vor Ort zeigt, wie Olivenöl gewonnen wird.

Ein zweiter Vertriebsleiter hat gerade seinen neuen Wagen von einem Autokonzern abgeholt und ist immer noch ganz angetan, dass er in die Autoproduktion schauen durfte und wie man ihn dort hofiert hat.

Der dritte im Bunde erzählt seinen beiden Standnachbarn euphorisch, dass er mit seiner Frau am letzten Wochenende, bei strömenden Regen (bekleidet mit Gummistiefeln), mit einem Immobilienmakler durch den Schlamm gelaufen ist, um eine im Rohbau befindliche Wohnung zu kaufen.

Fazit: Anpassung des Marktauftritts an Realität

Alle drei Beispiele zeigen, dass Menschen emotionale Wesen sind und Versicherungsgesellschaften von Olivenbauern, Autokonzernen und Immobilienmaklern noch viel lernen können.

Wenn Versicherungsgesellschaften ihren Auftritt ändern, die Produktfolder und ihren Marketingauftritt der Realität angleichen, ist der erste Schritt zu mehr Umsatz getan. Wer es schafft seine angeschlossenen Makler dazu zu befähigen, sich in die Situation der neuen und alten „Alten“ (körperlich und mental) hinein zu versetzen, wird Erfolg haben. Erfahrungen zeigen, dass es funktioniert, der Vertriebsaufwand nicht erhöht werden muss und die Umsätze top sind. Wer die Risiken der Generation 60plus absichern will, kommt nicht umhin, die Sprache der Zielgruppe zu sprechen.

Zur Person

Autor Ulrich Welzel, Inhaber der Brain|Active® Unternehmerberatung, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Verbesserung von Beratungsprozessen in der Generation 60plus.

Vgl.:

(1) WHO-Klassifizierung neue „Alte“ 55- bis 74-jährige, alte „Alte“ 75 – älter

(2) Für fünf Mahlzeiten geben die meisten Heimbetreiber pro Tag/pro Person 3,50 – 4,21 € brutto aus.

(3) Claus Fussek: „Im Netz der Pflegemafia“

 
Ein Artikel von
Ulrich Welzel