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1. März 2017
Über den Widerruf von Verträgen bei fehlenden Versicherungsbedingungen

Über den Widerruf von Verträgen bei fehlenden Versicherungsbedingungen

An die Übergabe der Versicherungsunterlagen an einen Versicherungsnehmer sind hohe Anforderungen zu stellen. Dies hat das Landgericht München I klargestellt und betont, dass die Möglichkeit einer bloßen Einsichtnahme nicht ausreichend ist.

Das Landgericht München I (Urteil vom Urteil vom 14.12.2016, Az.: 23 S 17206/15) hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Eine Versicherungsgesellschaft macht gegen den Versicherungsnehmer, der zugleich als Tippgeber in einer Agentur der Gesellschaft tätig war, die Zahlung von fälligen Versicherungsprämien geltend. Die Klägerin trug vor, der Beklagte habe mittels seiner ihm zur Verfügung gestellten Zugangsberechtigung im Online-Portal der Gesellschaft zwei Versicherungsverträge – eine Privathaftpflichtversicherung sowie eine Unfallversicherung – für sich abgeschlossen. Mit der Klage legte die Gesellschaft als Beweismittel den jeweiligen Versicherungsschein vor. Auf die Vorlage von Versicherungsbedingungen verzichtete die klagende Gesellschaft indes. Der Prozessbevollmächtigte des Versicherungsnehmers zeigte nach der Zustellung der Klage fristgerecht die Vertretung des beklagten Tippgebers an. Weitere Erklärungen erfolgten durch den Prozessbevollmächtigten zunächst nicht.

Im Rahmen der Klageerwiderung ließ der Beklagte den Vertragsschluss durch seinen Prozessbevollmächtigten bestreiten. Er habe mit seiner Zugangsberechtigung keine Verträge für sich abgeschlossen. Die Zugangsberechtigung habe auch Dritten zur Verfügung gestanden. Außerdem machte der Beklagte geltend, dass er bislang keinen Versicherungsschein erhalten habe. Vorsorglich wurde auch der Versicherungsvertrag widerrufen.

Amtsgericht München: Widerruf verfristet

Nach Durchführung der Beweisaufnahme stand nach Überzeugung des zuständigen Amtsgerichts München (Az.: 182 C 21419/14) fest, dass der beklagte Tippgeber mit seiner eigenen Zugangsberechtigung im Gesellschaftsportal der Gesellschaft den Vertrag abgeschlossen hat. Selbst wenn ihm nach Vertragsschluss kein Versicherungsschein zugegangen sei, so sei der Versicherungsschein jedenfalls mit Zustellung der Klage zugegangen. Der insoweit erst mit der Klageerwiderung erfolgte (vorsorgliche) Widerruf sei verfristet. Die Klage sei deshalb begründet.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts München legte der Prozessbevollmächtigte des beklagten Tippgebers Berufung ein. Die Berufung wurde damit begründet, dass er den Vertrag nicht abgeschlossen habe, sondern die Zugangsberechtigung vielmehr auch dem Agenturinhaber zur Verfügung stand. Überdies sei der Widerruf nicht verfristet, weil mit der Klage lediglich der Versicherungsschein, nicht aber die weiteren notwendigen Unterlagen wie etwa Versicherungsbedingungen zugegangen seien. Die für den Beginn der Widerrufsfrist notwendigen Voraussetzungen lägen damit nicht vor.

Die klagende Gesellschaft machte sich bezüglich des Vertragsschlusses im Wesentlichen die Ausführungen des Erstgerichts zu eigen. Hinsichtlich des Einwands des Beklagten, es fehle für den Fristbeginn die Übergabe aller notwendigen Unterlagen, machte die Gesellschaft geltend, in der Agentur, in der der Tippgeber tätig gewesen sei, hätten die Versicherungsbedingungen ausgelegen und seien jederzeit für ihn einsehbar gewesen. Der Beklagte könne sich deshalb nicht auf die fehlende Übergabe berufen. Nachdem der Beklagte das Auslegen der relevanten Versicherungsbedingungen in der Agentur mit Nichtwissen bestritten hatte, erhob das Gericht Beweis und vernahm den Agenturinhaber als Zeugen.

Nach Durchführung der Beweisaufnahme stand nach Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass die Klägerin dem Beklagten nicht alle notwendigen Unterlagen übergeben hat. Der Zugang der Widerrufsbelehrung alleine genüge hierfür nicht. Nach Ansicht des Gerichts seien dem Beklagten nämlich die erforderlichen Versicherungsbedingungen und die weiteren Informationen nicht zugegangen. Auch diese Voraussetzung müsse neben dem Zugang der Widerrufsbelehrung vorliegen, um den Frist­beginn gemäß § 8 Abs. 2 VVG auszulösen.

Übergabe der Unterlagen nicht nachweisbar

Eine Übergabe der Unterlagen konnte die beweisbelastete Klägerin nicht nachweisen. Insbesondere gelang ihr nicht der Nachweis, dass der Beklagte den Erhalt der Unterlagen – bei der Übergabe – quittiert hätte.

Das Gericht hatte deshalb zu entscheiden, ob die Auslage der Versicherungsbedingungen in der Agentur ausreichen würde. Der Zeuge hatte angegeben, die Unterlagen hätten in der Agentur, konkret im dortigen Sekretariat, ausgelegen. Dort hätten sich, in einem unverschlossenen Schrank, auch CDs mit verschiedenen Tarifbestimmungen befunden. Außerdem hätte der Beklagte das jeweilige Tarifierungswerk im Online-Portal einsehen können.

Das Gericht ließ die bloße Möglichkeit einer Kenntnisnahme allerdings nicht genügen. Nach Auffassung des Gerichts könne dahinstehen, ob die Versicherungsbedingungen und Informationen in der Agentur auslagen. Denn selbst nach der Aussage des Zeugen hätten die Unterlagen nicht im direkten Zugriffsbereich des Zeugen gelegen. Es fehle insoweit an einem zurechenbaren „Entäußern“ als auch an einem Gelangen in den Machtbereich des Beklagten. Auch genüge es nicht, wenn zwar auf eine umfassende „Sammlung“ von Versicherungsbedingungen zurückgegriffen werden könne, es letztlich aber dem Beklagten obliege, sich die „passenden“ Versicherungsbedingungen zu seinem Vertrag herauszusuchen. Es sei vielmehr nach der gesetzlichen Regelung Aufgabe des Versicherers, dem Versicherungsnehmer die spezifischen Versicherungsbedingungen und Informationen für den von ihm abgeschlossenen Vertrag zukommen zu lassen. Dies sei ersichtlich nicht erfolgt.

Kein Unterschied zwischen erfahrenen und unerfahrenen Versicherungsnehmern

Der Widerruf sei auch nicht deshalb missbräuchlich, weil der Beklagte als Tippgeber in einer Agentur der Klägerin tätig gewesen sei. Es dürfe nicht übersehen werden, dass an die Voraussetzungen des § 8 Abs. 3 VVG hohe Anforderungen zu stellen seien. Auch wenn der Beklagte über Jahre in der Versicherungsbranche tätig gewesen sei, so unterscheide das Gesetz nicht zwischen unerfahrenen und erfahrenen Versicherungsnehmern. Auch gegenüber dem Beklagten treffe die Klägerin deshalb die volle Belehrungs- und Informationspflicht. Hinzu käme, dass sich die Pflicht des § 8 Abs. 2 Nr. 1 VVG auf den konkreten Versicherungsvertrag beziehe. Ein generelles Verständnis von dem üblichen Inhalt einer Privathaftpflichtversicherung oder Unfallversicherung genüge deshalb nicht. § 8 Abs. 2 Nr. 1 VVG wolle ersichtlich sicherstellen, dass der Versicherungsnehmer die Unterlagen vollständig im Besitz habe.

Das Urteil mag auf den ersten Blick einen Einzelfall beurteilen. Von Bedeutung ist allerdings die detaillierte Auseinandersetzung des Gerichts mit den Voraussetzungen an die Übergabe der vollständigen Unterlagen an den Versicherungsnehmer. Das Gericht hat dabei die Auffassung vertreten, dass an die Übergabe der Unterlagen hohe Anforderungen zu stellen sind. Es soll nach der Auffassung des Gerichts sichergestellt werden, dass der Versicherungsnehmer nicht nur in den Besitz des Versicherungsscheins gelangt, sondern darüber hinaus auch an die vollständigen und vertragsspezifischen Versicherungsbedingungen und Informationen und ihm nicht nur eine bloße Einsichtnahme gewährt wird.

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 02/2017, Seite 98f.

 
Ein Artikel von
Von Michaela Ferling