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31. Mai 2017
„Maklern und Kunden raten wir im Umgang mit den Solvenzquoten zu einer gewissen Gelassenheit“

„Maklern und Kunden raten wir im Umgang mit den Solvenzquoten zu einer gewissen Gelassenheit“

Die Versicherer haben ihre Solvenzquoten veröffentlicht. Dr. Reiner Will, geschäftsführender Gesellschafter der Ratingagentur ASSEKURATA, erzählt im AssCompact Interview von der Papierflut, die die Veröffentlichungspflicht mit sich gebracht hat, und worauf Makler bei der Kennzahl besonders achten sollten.

Herr Dr. Will, seit 22. Mai gilt die Veröffentlichungspflicht für die Solvenzquoten der Versicherer. Haben Sie schon erste Schlussfolgerungen ziehen können?

Die Menge an Informationen ist beeindruckend und zugleich auch abschreckend. Über die gesamte Branche hinweg umfassen die veröffentlichten Berichte zur Solvabilität und Finanzlage (SFCR) rund 20.000 Seiten Papier. Links zu nahezu allen in Deutschland veröffentlichten Berichten haben wir auf www.solvencyDATA.de hinterlegt.

Im Moment befinden wir uns noch mitten in der Aufbereitung der Daten und Fakten. Für eine tiefgreifende qualitative Analyse der Berichte fehlte bisher schlicht die Zeit, weil auch die meisten Versicherer erst exakt zum Meldestichtag ihren Solvenzbericht veröffentlicht haben. Wir möchten hierzu erst nach einer sorgfältigen Analyse Informationen bereitstellen. Die ersten Ergebnisse beziehen sich daher vornehmlich auf die Bedeckungsquoten. Deren Ergebnisse entsprechen im Großen und Ganzen unseren Erwartungen. Die Branche übererfüllt die neuen Anforderungen insgesamt ordentlich.

Aufgrund der Garantiezinsbelastungen im Niedrigzinsumfeld ziehen dabei vor allem die Ergebnisse der Lebensversicherer Aufmerksamkeit auf sich. Hier sehen wir recht große Unterschiede. Dies betrifft auch die Nutzung von Übergangsmaßnahmen, die den Umstieg auf die neuen Bewertungsvorschriften erleichtern können.

Überrascht die Spannbreite bei den Quoten?

Bei den Lebensversicherern sehen wir im Einzelfall Werte von etwas über 100% bis über 1.000%. Die Spannweite ist damit schon sehr beträchtlich. Der Großteil der Quoten liegt deutlich über 200% und der Mittelwert des aufsichtsrechtlichen Deckungsgrads einschließlich Übergangsmaßnahmen und Volatilitätsanpassung bei über 300%.

Allerdings ist hier zu beachten, dass die Werte im Zeitverlauf sehr volatil sein können. So gibt beispielsweise die Allianz Leben ihre Solvenzquote zum Stichtag 31.12.2016, die ohne Berücksichtigung von Übergangsbestimmungen berechnet ist, mit 379% an. Zusätzlich enthält der Bericht auch den Wert zum 31.03.2017. Er liegt mit 319% zwar weiterhin auf einem sehr hohen Niveau, ist aber rund ein Sechstel niedriger als noch zum Jahresultimo 2016. Ursächlich dafür dürfte die starke Zinsreagibilität der Quote sein. Hätte die Branche die Solvenzquoten zum Stichtag 30.09.2016 ausweisen müssen, dann wären die Werte aufgrund des seinerzeit extrem niedrigen Zinsniveaus an den Kapitalmärkten um rund ein Drittel niedriger ausgefallen als zum Veröffentlichungsstichtag 31.12.2016. An der unternehmerischen Substanz hat sich freilich in so kurzer Zeit nicht viel geändert. Insoweit ist Vorsicht bei der Interpretation der Quoten geboten.

Was sagt die Solvenzquote konkret aus? Und worauf sollten insbesondere Makler bei der Kennzahl achten?

Die Solvenzquote bringt zum Ausdruck, ob ein Versicherer auch in extremen Stress-Szenarien in der Lage ist, seine Risiken durch ausreichende Eigenmittel zu decken. Gegenübergestellt werden die vorhandenen Eigenmittel und die Solvenzkapitalanforderungen. Liegt die Quote über 100%, erfüllt der Versicherer die Mindestanforderung zum Stichtag der Messung.

Die Ermittlung der Eigenmittel erfolgt in einer Solvency-II-Bilanz anhand einer Gegenüberstellung der mit Marktwerten bewerteten Vermögenswerte (Aktiva) und Verbindlichkeiten (Passiva). Es gibt allerdings nicht für alle Positionen unmittelbare Marktwerte, beispielsweise für die versicherungstechnischen Rückstellungen, sodass auch Schätzwerte und Szenariorechnungen zur Anwendung kommen, was zwangsläufig mit Annahmen und Spielräumen für die Bewertung verbunden ist.

Dies betrifft auch die Ermittlung der Solvenzkapitalanforderungen. Sie ergeben sich aus einer umfassenden Bewertung der unternehmerischen Risiken, angefangen beim Markt- und Kreditrisiko über das versicherungstechnische bis hin zum operativen Risiko. Für jedes Einzelrisiko wird der mögliche Verlust an Eigenmitteln in definierten Modellkonstellationen ermittelt und zum gesamten Solvency Capital Requirement (SCR) aggregiert. Die Risikomessung erfolgt wiederum auf Basis von Marktwerten unter Berücksichtigung von Annahmen und Bewertungsspielräumen. Bei der Interpretation der veröffentlichten Solvenzquoten sind daher immer auch die Bewertungsansätze in der Solvency-II-Bilanz und die Methoden der Risikokapitalberechnung zu würdigen.

Was genau bedeuten diese „Übergangsmaßnahmen“?

Wie schon erwähnt basiert Solvency II auf Bewertungen zu aktuellen Marktgegebenheiten. Der Bestand an Versicherungsverträgen wird dazu unter Verwendung einer risikofreien Zinsstrukturkurve bewertet. Diese spiegelt die Gegebenheiten des Niedrigzinsumfelds aktuell wider. Sie liefert auch Informationen, wie in diesem Umfeld die erzielbaren Zinsen bei Neuanlagen in der Kapitalanlage aussehen würden. Die BaFin kann einem Versicherer auf Antrag genehmigen, seine Verpflichtungen nicht sofort auf Grundlage von Marktgrößen zu bewerten, sondern in einem Zeitraum von 16 Jahren schrittweise darauf überzugehen. Dies erleichtert den Übergang auf die neuen Solvenzregelungen, was insbesondere mit Blick auf die bestehenden Garantieverpflichtungen in Zeiten historisch tiefer Zinsen von besonderer Bedeutung ist. Unter Berücksichtigung der Übergangsmaßnahmen werden bestehende Versicherungsverhältnisse nicht zu stark belastet und die Unternehmen gewinnen Zeit, etwa um neue Versicherungsprodukte mit weniger Risiko und Kapitalbeanspruchung zu entwickeln. Für das Neugeschäft gelten allerdings die Regelungen der markwertkonsistenten Bewertung ab sofort. Zudem haben einige Lebensversicherer im Vertrauen auf ihre robuste Eigenmittelausstattung gar keine Übergangsmaßnahmen beantragt.

Da die Wirkung der Übergangsmaßnahmen während des Übergangszeitraums kontinuierlich nachlässt, sind die betreffenden Unternehmen von der Aufsichtsbehörde angehalten, sich in dieser Zeit aktiv mit den Auswirkungen auf ihre Solvenzsituation auseinanderzusetzen. Dabei müssen sie Maßnahmen zur Aufbringung von zusätzlichen Eigenmitteln oder zur Senkung ihres Risikoprofils ergreifen. Gesellschaften, die auf Übergangsmaßnahmen verzichten, haben hier die Vorteile größerer finanzieller Flexibilität und erhöhter Freiheiten in der Gestaltung ihres Geschäftsmodells bzw. Produktportfolios.

Versicherer und Aufsicht warnen davor, die nun veröffentlichten Zahlen als Vergleichskennzahlen zu verwenden, der BdV zeigt sich deshalb irritiert. Schließlich sollten sie ja auch mehr Transparenz über die Stabilität eines Versicherers bringen. Wie sollen sich Makler verhalten?

Beide Seiten haben ein Stück weit recht, und dafür gibt es meines Erachtens auch gute Argumente. Die Versicherer weisen richtigerweise darauf hin, dass sich Solvency II nicht auf eine Quote reduzieren lässt und dass es die „eine“ Quote ohnehin nicht gibt. Jenseits der Quoten ist vor allem der Blick auf das ganzheitliche Risikomanagement eines Versicherungsunternehmens wichtig. Auch hierzu enthalten die SFCR-Berichte eine Vielzahl an Informationen. Das sogenannte Enterprise Risk Management ist auch in unseren Ratings eine ganz entscheidende Bewertungskategorie.

Ursächlich für Probleme beim Vergleich der Quoten sind, wie schon erwähnt, die vielen Stellschrauben bei der Ermittlung der Solvenzbedeckung. Hinzu kommt die Nutzung verschiedener Grundmodelle wie das Standardmodell oder ein von der Aufsicht zu genehmigendes internes Modell. Darüber hinaus unterscheiden sich die Quoten durch die (Nicht-)Anwendung von Übergangsmaßnahmen, Volatilitätsanpassungen oder unternehmensspezifischen Parametern.

Andererseits kann man aber auch nicht so tun, als ob die Solvenzquoten irrelevant seien, hängen von ihrer Erfüllung doch konkrete aufsichtsrechtliche Konsequenzen ab. Werden nämlich bestimmte Schwellenwerte unterschritten, geraten die betroffenen Gesellschaften unter eine intensivierte Aufsicht. Dies hat zum Beispiel zur Konsequenz, dass regelmäßig Sachstandsberichte zu Gegenmaßnahmen erstellt werden müssen, die vom Wirtschaftsprüfer zu bestätigen sind.

Maklern und Kunden raten wir im Hinblick auf den Umgang mit den Solvenzquoten zu einer gewissen Gelassenheit. Vergleichbar mit „Fiebermessen“ sind die Quoten gewisse Indikatoren für den aktuellen Gesundheitszustand. Einen „Ganzkörper-Check“ ersetzen sie meines Erachtens aber nicht. Dafür sind Ratings das geeignetere Instrument. Sie basieren auf einem holistischen Bewertungsansatz, der neben der finanziellen Situation der Gesellschaft auch die Zukunftsträchtigkeit ihres Geschäftsmodells und Einflüsse der Unternehmensumwelt berücksichtigt. Zudem stehen Ratings unter laufender Beobachtung, wozu letztlich auch die regelmäßige Überprüfung der Solvenzbedeckung gehört.

Wie werden Ratingagenturen die Kennzahl „einpreisen“?

Die Erfüllung der aufsichtsrechtlichen Solvenzanforderungen hat auch in Ratingverfahren eine wichtige Bedeutung, ist jedoch für die finanzielle Stärke eines Versicherers nur ein Indikator von vielen. In unseren Ratingverfahren bewerten wir dabei nicht nur die Solvenzquoten mit und ohne Übergangsmaßnahmen, sondern hinterfragen auch deren individuelle Berechnungsweise. Neben den Solvenzquoten berücksichtigen wir darüber hinaus zahlreiche weitere Kennzahlen aus der internen und externen Rechnungslegung. Dabei sollte auch nicht außer Acht bleiben, dass das deutsche Insolvenzrecht auf der Erfüllung der HGB-Abschlüsse basiert. Hier stehen die Lebensversicherer vor der besonderen Herausforderung, die Anforderungen der Zinszusatzreserve bilanziell erfüllen zu müssen. Dies erscheint uns gegenwärtig sogar eine noch größere Herausforderung zu sein als die Erfüllung der Solvenzvorgaben.