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9. Mai 2017
Gezeitenwechsel an den Finanzmärkten

Gezeitenwechsel an den Finanzmärkten

Der Bullenmarkt an den Aktienmärkten geht ins neunte Jahr: Während sich Anleger fragen, wie lange der zyklische Rückenwind noch andauern kann, zeichnen sich einige markante Wendepunkte ab, die für zusätzliche Verunsicherung sorgen. Umso wichtiger ist es nun, selektiv vorzugehen und die vorhandenen, aber weniger werdenden Chancen zu nutzen.

Der 06.03.2009 ist vielen Anlegern in negativer Erinnerung geblieben: An diesem Tag schloss der Dax mit 3666 Punkten und damit stolze 55% tiefer, als zum Jahresende 2007. Parallel stürzten die Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen von 4,3 auf 2,9% und die Realrenditen fielen unter den langjährigen Durchschnitt. Für Investoren war dies eine deprimierende Zeit, denn der Blick in den Rückspiegel schien zu beweisen, dass Aktieninvestments auch längerfristig keinen Ertrag bringen – der Dax lag damals selbst über zehn Jahre im Minus.

Aber auch wenn in solchen Zeiten eher Panik als Zuversicht die Anleger antreibt: Gerade zu diesem Zeitpunkt waren die langfristigen Renditeaussichten für Aktien besonders gut. Die Notenbanken hatten die Leitzinsen gesenkt, die Regierungen in den USA, China und Europa legten Stimulationsprogramme auf und garantierten den Fortbestand der Banken. So war es absehbar, dass sich die wirtschaftliche Lage und die Unternehmensgewinne in den Folgejahren wieder erholen würden. Es wäre also der ideale Einstiegszeitpunkt gewesen, um von dem zu erwartenden zyklischen Rückenwind zu profitieren.

Einer der längsten Zyklen des Jahrhunderts

Acht Jahre später befinden wir uns in einer sehr reifen Phase des Zyklus – für Anleger herrscht eitel Sonnenschein. Viele Indizes erreichten neue Höchststände, die US-Wirtschaft befindet sich in der drittlängsten Expansionsphase der letzten hundert Jahre und die Arbeitslosigkeit in der Eurozone sinkt stetig seit vier Jahren.

Aber: Aktien und Anleihen sind natürlich nun viel teurer als vor acht Jahren. Der Dax kämpft mit der 12.000-Punkte-Marke, Anleiherenditen werden von Notenbanken im Keller gehalten. Zehnjährige Bundesanleihen rentieren mit 0,2% trotz einer steigenden Inflationsrate von 1,6% was einer Realrendite von –1,4% entspricht.

Differenzierteres Vorgehen gefragt

Da der zyklische Rückenwind abflaut, müssen Investoren nun differenzierter vorgehen und es gilt zu ermitteln, wo sich im aktuellen Kapitalmarktumfeld noch Opportunitäten finden lassen. Ein Weg ist die Sektorallokation: Die globalen Aktienmärkte sind, gemessen an ihrem KGV von 16,8, im Vergleich zum historischen Durchschnitt (16,2), relativ teuer. Zykliker jedoch wie Finanzwerte und Konsum­güter sollten vorerst im Umfeld steigender Renditen am Rentenmarkt profitieren und sich relativ besser entwickeln als defensive Sektoren und Immobilien.

Ein weiterer aussichtsreicher Bereich sind Schwellenländer-Aktien und Schwellenländer-Bonds in Lokalwährungen: Der Verfall der Rohstoffpreise scheint beendet und die Unternehmensgewinne beginnen nach einem vierjährigen Rückgang wieder zu steigen. Auch die Währungen vieler Schwellenländer sind nach Jahren der Abwertung insbesondere gegenüber dem US-Dollar günstig geworden. Nicht zuletzt sind Hochzins­anleihen mit 5,8% Rendite trotz niedrigerer Risikoprämien weiter attraktiv, denn die Zahlungsausfälle gehen aufgrund der guten konjunkturellen Lage und der Ölpreiserholung wieder zurück.

Europa-Aktien attraktiv

Aber man muss als Anleger gar nicht in die Ferne schweifen – auch die Aktien in Europa sehen derzeit recht attraktiv aus. Für die Titel spricht, dass die europäische Wirtschaft weiter auf Erholungskurs liegt, und die Arbeits­losigkeit kontinuierlich zurückgeht. Das sollte das Verbrauchervertrauen und zudem die Gesamtnachfrage weiter stärken. Auch die Umsätze im Einzel­handel sowie die Industrieproduktion verzeichnen positive Trends. Die Umfragedaten der Unternehmen sind entsprechend so gut wie seit sechs Jahren nicht mehr und liegen auf einem Niveau, das in der Vergangenheit einem realen BIP-Wachstum von mehr als 2% entsprach. Bei gleichzeitigem Anstieg der Inflation werden das nominale Wachstum und somit die Unternehmensumsätze wahrscheinlich den höchsten Stand seit vielen Jahren erreichen.

Trendwende bei europäischen Unternehmensgewinnen

Damit europäische Aktien nachhaltig zulegen können, müssen die Unternehmen zwar erst höhere Gewinne erzielen. Die gute Nachricht ist nun aber, dass nach einer fünfjährigen Phase, in der die Gewinnerwartungen ständig nach unten korrigiert werden mussten, dieser Trend in diesem Jahr endlich gestoppt und sogar leicht umgekehrt werden konnte. Und nicht nur bei den erwarteten, sondern auch bei den tatsäch­lichen Gewinnen hat ein Wachstum eingesetzt, von dem die meisten Sektoren erfasst wurden. Diese Entwicklung wird nach wie vor durch den Energiesektor beeinträchtigt, doch wenn der Ölpreis auf dem aktuellen Niveau bleibt oder möglicherweise noch steigt, sollten auch in diesem Bereich die Gewinne höher ausfallen als im Vorjahr.

Aufholjagd zurückgebliebener Segmente

Es ist dabei insbesondere eine Outperformance der zurück­gebliebenen Marktsegmente zu erwarten, denn bei einem Anstieg des globalen Wachstums und der Inflation sowie einer gleichzeitigen Erhöhung der Anleiherenditen sollten unterbewertete Substanzwerte (Value) die überbewerteten Wachstumstitel (Growth) übertreffen.

Von zahlreichen Wendepunkten nicht abschrecken lassen

Aus fundamentaler Sicht gibt es in verschiedenen Segmenten der Märkte also immer noch eine ordentliche Risikoprämie zu verdienen, um mit der Kapitalanlage auf Kurs zu bleiben. Es zeichnen sich allerdings aktuell einige Wendepunkte ab, die bei einigen Marktteilnehmern und Anlegern für Verunsicherung sorgen und sie vielleicht zu vorsichtig werden lassen. Ein Beispiel ist der Wechsel von der Geld- zur Fiskalpolitik. Inzwischen beginnen Zentralbanken in den Industrieländern, ihre extrem lockere Haltung zu korrigieren. Der allmähliche Entzug der Liquidität, der möglicherweise die nächsten Jahre anhalten wird, sollte es den politischen Entscheidungsträgern aber ermöglichen, ihre Fiskalpolitik sorgfältig vorzubereiten, sodass die Finanzmärkte einen graduellen Zinsanstieg gut und ohne das Trauma früherer Straffungszyklen verkraften sollten.

Rückzug wäre die falsche Risikoreaktion

Stärker beobachten sollten Anleger die aktuellen Tendenzen zu mehr Protektionismus und populistischer Politik. Auch eine nachhaltig ansteigende Inflation könnte zu Risikoaversion insbesondere an den Staatsanleihenmärkten führen. Sich jetzt aus den Märkten zurückzuziehen oder Investitionen zurückzuhalten, wäre unserer Ansicht nach die falsche Reaktion und für die langfristige Anlagestrategie sogar gefährlich: Auch in einem Spätzyklus sind nach den Erfahrungen der letzten 80 Jahre für Investoren noch ordentliche Erträge zu erzielen.

Da Kurseinbrüche nur schwer vorherzusagen sind, gilt es gerade jetzt, breit diversifiziert nach Regionen und Anlageklassen und aktiv gemanagt investiert zu bleiben, um die Risiken im Portfolio zu reduzieren und selektiv Schwerpunkte zu setzen, statt sich von Emotionen zu Anlageentscheidungen verleiten zu lassen, die man später bereuen könnte.

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 05/2017, Seite 62 f.

 
Ein Artikel von
Von Tilmann Galler