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Fort & Weiterbildung
12. September 2023
Vertrieb meets KI: Evolution der Verkaufstrainings
The businessman with virtual reality glasses in the office

Vertrieb meets KI: Evolution der Verkaufstrainings

Statt der klassischen Präsenztrainings oder E-Learnings setzt die Nürnberger Versicherung bei den Weiterbildungs­programmen für ihre Vertriebsmitarbeiter auf eine mit KI arbeitende Trainingsplattform. Wie funktioniert das und welchen Effekt haben solche Weiterbildungen? Welche Herausforderungen gibt es?

Ein Artikel von Robert Jung, Leiter HR Qualifizierung Vertrieb bei der Nürnberger Versicherung

Wie vermittelt man am effektivsten die Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die entscheidend zu Vertriebserfolg und Kundenzufriedenheit beitragen? Diese Frage stand am Anfang eines KI-Pilotprojekts bei der Nürnberger Versicherung.

Der Erfolg von Mitarbeitern mit Kundenkontakt basiert entscheidend auf ihrer Fähigkeit, die Anforderungen und Bedenken der Kunden zu erkennen, Lösungen zu präsentieren, Einwände zu behandeln, Vertrauen aufzubauen und Empathie zu zeigen.

Herkömmliche Trainingslösungen quantifizieren diese wichtigen Aspekte der Kundenkommunikation nur unzureichend. Eine Steuerung von Kundenorientierung ist somit kaum möglich. So wandte man sich der künst­lichen Intelligenz (KI) zu, auch weil viele andere Trainingsarten Defizite aufweisen.

Präsenztrainings und E-Learning

Warum sind Präsenztrainings problematisch? Oft fürchten Mitarbeiter, dass ihre Schwächen vor Kollegen und Vorgesetzten offenbar werden. Konventionelle Präsenztrainings sind oft noch passiv strukturiert und bewirken, dass sich die Teilnehmer abkoppeln. Die Informationen, die aufgenommen werden müssen, sind zu isoliert vom Arbeitskontext. Individuelles Feedback ist oftmals auf kurze Übungen limitiert, in denen Trainer ihren subjektiven Eindruck der Teilnehmer schildern (oftmals vor allen anderen Anwesenden). Es mangelt somit an objektivem Feedback. Der Erfolg solcher Trainingsmaßnahmen ist schwer bis nicht messbar, insbesondere wenn es um die nachgelagerte Steigerung des Vertriebserfolges geht.

Nicht zuletzt deshalb investieren viele (Versicherungs-)Unternehmen vermehrt in digitale Trainingslösungen in Form von E-Learnings. Diese Lösungen eignen sich zwar für die reine Wissensvermittlung, sind jedoch hinsichtlich ihrer Interaktivität und Vermittlung von Soft Skills stark eingeschränkt. Viele Fähigkeiten, die für Vertriebs- und Serviceerfolg entscheidend sind, lassen sich nicht einfach mittels eines Video-Tutorials erlernen.

Beratung wird im Video simuliert

Sowohl inhaltlich als auch methodisch besteht also noch viel Optimierungspotenzial. Die Nürnberger hatte sich deshalb entschlossen, nicht in Richtung Präsenztraining bzw. E-Learning zu gehen, sondern ein Weiterbildungsprogramm für Vertriebsmitarbeiter auf Basis einer mit KI arbeitenden Trainingsplattform zu entwickeln.

Die Trainingsplattform selbst stammt von der Firma Retorio und wurde entsprechend den Anforderungen angepasst. Retorio ist eine 2018 gegründete GmbH mit Sitz in München. Sie stellt eine video­basierte Plattform zur Verfügung, die künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen mit Erkenntnissen aus der modernen Verhaltenspsychologie verbindet. Es werden typische Situationen in der Beratung von Versicherungskunden mittels Video simuliert, z. B.: Kunde wünscht Angebot. In diesen Kundensituationen trainiert der Teilnehmer das passende Verhalten, z. B. beruhigend, aufmunternd oder moderativ zu wirken bzw. Produktfragen zu beantworten. Die KI zeichnet über Webcam und Mikrofon das Gespräch auf und analysiert die Videoaufnahme hinsichtlich Mimik, Gestik, Sprache und Stimme. Beim danach folgenden Abgleich werden Best-Practice-Ansätze erfahrener und erfolgreicher Vertriebsmitarbeiter aus der Versicherungsbranche (z. B. DEVK, DVAG oder Nürnberger) zugrunde gelegt. Auf dieser Basis erhalten die Teilnehmer nach der Bearbeitung der Übungen ein objektives Feedback mit konkreten Handlungsempfehlungen für ihre weiteren Entwicklungsschritte, die auf die speziellen Anforderungen und Erwartungen bei der Nürnberger zugeschnitten sind.

Ziele des Pilotprojekts

Mit dem Pilotprojekt sollten folgende Ziele erreicht und Mehr­werte geschaffen werden:

1. Kundenorientierung verbessern und steigern

2. Individuelle und passgenaue Trainings mit objektivem Feedback für jeden Teilnehmer („Persönlicher Coach“) anbieten

3. Realitätsnahe Trainings, da die Situationen aus dem eigenen Nürnberger-Vertriebsalltag kommen

4. Schaffung von psychologisch sicheren Trainingsräumen: Mitarbeitende trainieren und erhalten Feedback ohne Anwesenheit eines Dritten

5. Erfolgsmuster werden erkannt und auf das eigene Verhalten übertragen

6. Mehrwert für Vertrieb durch unabhängige Einschätzung der vertrieblichen Fähigkeiten

Einbindung, Feedback und Datenschutz

Durch das Einbinden von Vertriebsmitarbeitern von Beginn an wurde sichergestellt, dass sich die Trainingsinhalte stark am vertrieb­lichen Alltag der Teilnehmer orientieren. Dadurch stieg die Akzeptanz der Trainingsmaßnahme und die Bereitschaft, Zeit in das eigene Training zu investieren. Durch fortlaufendes und engmaschiges Feedback (anonym wie auch in persönlichen Gesprächen) wurden Wünsche der Anwender und Änderungsbedarfe schnell erkannt. Wegen der sensiblen Themen „Datenschutz der aufgezeichneten Videos“ und „Messbarkeit von Mitarbeiterleistung“ wurden Datenschutz und die Mitbestimmungsgremien frühzeitig eingebunden.

Training im geschützten Raum

Die Trainingsplattform wird von den Teilnehmern sehr positiv bewertet. In geschützten Trainingsräumen können sie üben, ohne sich einer anderen Person „aussetzen“ zu müssen. Besonders bei noch unerfahrenen Vertriebsmitarbeitern ist damit die Hürde, in der Gruppe performen zu müssen, genommen. Durch das orts- und zeitunab­hängige Trainieren lässt sich das Üben bestmöglich in den individuellen Vertriebsalltag integrieren. Zudem hilft es den eigenen Trainern und Coaches der Nürnberger, da sie die Trainingsplattform als Baustein in ihre Vertriebstrainings einbauen können.

Obwohl das Projekt KI in der Vertriebsausbildung komplex war und neue Wege gegangen werden mussten, konnte es recht schnell realisiert werden: Die Vorbereitungen starteten im November 2022, der aktive Test der Pilot­gruppe begann im April 2023 und aktuell läuft die Validierung des Piloten. Nach dem erfolgreichen Abschluss und Roll-out kann das gesamte Unternehmen profi­tieren, da die Trainingsinhalte auf die unterschiedlichsten Situationen im persönlichen beruflichen Alltag der Mitarbeitenden angepasst werden können.

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 09/2023 und in unserem ePaper.

Bild: © Elnur – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Robert Jung