AssCompact suche
Home
Investment
27. Oktober 2020
Abschied vom Klein-Klein

Abschied vom Klein-Klein

Die Finanzwirtschaft darf nicht länger als bloßer Produktgeber agieren. Es ist notwendig, den Menschen bewusst zu machen, dass die Möglichkeiten der Kapitalmärkte einen substanziellen Beitrag zu ihrer Lebensplanung leisten können. Es geht um die Einsicht ins Ganze. Nur so kann in Deutschland eine echte Anlagekultur entstehen, sagt Charles Neus, Head of Retirement Solutions von Schroder Investment Management (Europe).

Der Befund ist hinlänglich bekannt: Die EU-Bürger legen ihr Geld lieber unters Kopfkissen, als es an den Kapitalmärkten zu investieren. Ein Drittel des Vermögens der privaten Haushalte wird in Bargeld oder Einlagen gehalten. In Deutschland ist dieser Anteil noch höher. Das ist aus zweierlei Gründen besorgniserregend. Zum einen, weil die Leistungsfähigkeit der Staaten bei der Lebens- und Altersvorsorge beständig abnimmt, der Einzelne mithin stärker gefragt ist. Zum anderen, weil die auf lange Zeit extrem niedrigen Zinsen ausreichende Erträge nicht mehr gewährleisten. Der Zinseszinseffekt funktioniert nicht mehr.

Die bisherigen, vor allem durch Politik und Aufsicht getriebenen Maßnahmen des finanzwirtschaftlichen Verbraucherschutzes waren ein erster und wichtiger Schritt, um das Problem anzugehen. Offenlegungspflichten der Anbieter, ausreichende Preis- und Renditeinformationen sowie Transparenz bei der Wertentwicklung sind durchaus geeignet, das Vertrauen in Kapitalanlagen zu fördern. Die Schaffung einer Anlagekultur geht allerdings über rein produktbezogene Informationen hinaus. Denn die meisten Menschen halten nicht Ausschau nach dem besten Produkt, sondern nach finanzwirtschaft­lichen Lösungen für die Herausforderungen ihres Lebens. Diese Herausforderungen sind nicht statisch, sondern können sich je nach Lebens­abschnitt und Lebenssituation verändern. Die meisten Menschen eint jedoch das Bedürfnis, im Alter finanziell gut abgesichert zu sein. Vor diesem Hintergrund haben die Analysten des amerikanischen CFA-Instituts die Altersvorsorge als wichtigstes Anlageziel von Privat­anlegern weltweit ermittelt.

Die Finanzkrise wirft lange Schatten

Als Haupthindernis auf dem Weg zu einer Anlagekultur gilt das mangelnde Vertrauen in die Finanzwirtschaft. Hier leiden Finanzdienstleister immer noch unter den Folgen der Finanzkrise von 2008. Im gesamten Dienstleistungsspektrum zählen sie zu den am wenigste vertrauenswürdigen Akteuren, wie das Edelman Trust Barometer 2020 ausweist.

Es mangelt an Vertrauen

Mangelndes Vertrauen wird aber nicht nur durch einzelne Schockerlebnisse befördert. Es steht auch im direkten Zusammenhang mit einem unzureichenden Verständnis von den Grundlagen der Finanzwirtschaft und der Kapitalanlage. Das Fremdeln mit der Kapitalanlage hat also nicht nur etwas mit schlechten Erfahrungen, sondern vor allem mit einer geringen Finanzkompetenz zu tun. In dieser Hinsicht ist es gerade auch in Deutschland nicht zum Besten gestellt. Das Thema der geringen Finanzkompetenz kann nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Denn jenseits von theoretischen Erkenntnissen ist es von zentraler praktischer Bedeutung für die Lebensbedingungen der Menschen. So haben verschiedene Studien festgestellt, dass mangelnde Finanzkompetenz die Gefahr der Überschuldung steigert, die Chancen auf eine gute Altersvorsorge verringert, mit einem erhöhten Armutsrisiko einhergeht und die Vermögensungleichheit verschärft.

Risikoscheu überwinden

Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer Anlagekultur ist die Risikoscheu. In Österreich und Deutschland etwa gelten Anlagen in Wertpapiere und Fonds als besonders riskant. Dabei wird verkannt, dass die Ertragsrisiken bei Sparbüchern oder Festgeldkonten gegenwärtig deutlich höher sind als auf den Kapitalmärkten. Inflation und Negativzinsen führen in der Regel dazu, dass hier am Ende real weniger Geld zur Verfügung steht, als eingezahlt wurde. Mit Blick auf das Vertrauen kommt hinzu, dass geringe Finanzkompetenz und eine hohe Risikoscheu sich gegenseitig verstärken. Je geringer das Verständnis und je weniger das Vertrauen in Finanzdienstleistungen, desto geringer ist die Bereitschaft, die mit Kapitalanlagen verbundenen Risiken einzugehen.

Was ist zu tun?

Die Verhaltensökonomie legt nahe, dass den Menschen Stolpersteine aus dem Weg genommen werden müssen, damit sie Kapitalanlagen in Erwägung ziehen. Leider gibt es keine Patentlösung. Sicher ist jedoch, dass es einer radikal geänderten Arbeitsweise innerhalb der Branche bedarf. Wir müssen beim Einzelnen ansetzen und eine Bereitschaft zu Ge­sprächen entwickeln. Und zwar mit den Menschen und nicht über sie hinweg, über Lösungen anstelle von Produkten, über Kommunikation anstelle von Pflichtinformation. Es geht um die Befähigung anstelle der rein technischen Informationsvermittlung. Dieses Ziel kann nur durch eine qualitativ gute Beratung und nicht über bloße Vertriebsmaßnahmen erreicht werden. Mit Blick auf die Anlagekultur geht es nicht darum, jeden zu Anlageexperten zu machen. Anlagekultur bedeutet vielmehr, sich der Möglichkeit bewusst zu sein, dass die Kapitalmärkte zur Deckung finanzieller Bedürfnisse genutzt werden können. Anlagekultur heißt darüber hinaus auch, die Fähigkeit, einem Gespräch mit dem Finanzberater folgen zu können, die Informationen in den vorgeschriebenen Offenlegungen zu verstehen und Vertrauen in die eigene Entscheidung zur Anlage zu haben.

Abschied vom Klein-Klein

Anlageberater in zentraler Rolle

Anlageberatern kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Sie sind ein zentraler Baustein beim Aufbau einer Anlagekultur. Dabei geht es nicht nur darum, ein Anlageprodukt zu empfehlen. Vielmehr steht die Beurteilung der Finanzlage und künftigen Finanzziele einer Person im Vordergrund. Erst dann stellt sich die Frage, mit welchen Lösungen sich diese Ziele am wahrscheinlichsten erreichen lassen. Vor allem findet die Beratung auch dann noch statt, wenn die Investition bereits erfolgt ist. Beispielsweise indem kommuniziert wird, wie eine Lösung umgesetzt wird und ob sie auch unter gegebenenfalls veränderten Lebensumständen noch die richtige ist. Wichtig ist, dass Berater Anlegern helfen können, ihre Verhaltens­tendenzen zu verstehen und mit ihnen umzugehen, um so schlechte Entscheidungen und Frustrationen zu vermeiden.

Technologie als ein Schlüssel zum Erfolg

Auf dem Weg hin zu einer Anlagekultur kann der Einsatz internetbasierter Technologien sinnvoll sein – gerade dann, wenn es darum geht, jüngere Zielgruppen anzusprechen. Ein Beispiel: In der Global Investor Study von Schroders ließ die überwiegende Mehrheit der Befragten ihr Interesse an einer konsolidierten Plattform für Finanzinformationen erkennen. Open Banking kann hier als Vorbild dienen, wie die notwendigen Informationen leicht zugänglich an einem Ort zusammen­geführt werden können. Hierin besteht eine große Chance. Denn unterschiedliche Informationen zu Produkten, Strategien und Hintergründen aus verschiedenen Quellen und Formaten verringern die Motivation der Menschen, sich mit dem Thema Finanzwirtschaft zu befassen. Doch Vorsicht: Ent­sprechende offene Plattformen sollten vorrangig nicht dem Marketing dienen. Das Ziel lautet vielmehr, die Menschen durch neue Technologien in ihrer Befähigung zu stärken. Technik als „Enabler“ lautet das Stichwort.

Diesen Interview lesen Sie auch in AssCompact 10/2020, Seite 60f., und in unserem ePaper.

Bild: © suriyapong – stock.adobe.com