Ein Artikel von Björn Thorben M. Jöhnke, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte
In Deutschland wird etwa jeder vierte Erwerbstätige im Laufe seines Lebens berufsunfähig – oft durch psychische Erkrankungen oder Suchterkrankungen wie zum Beispiel der Alkoholsucht. Alkoholsucht ist eine Krankheit, was auch das Bundessozialgericht im Jahr 1968 bestätigte. Mit rund 1,6 Mio. Betroffenen gehört Alkoholsucht zu den häufigsten chronischen Erkrankungen. Doch ob eine Alkoholsucht auch zu Leistungen wegen Berufsunfähigkeit führt, ist fraglich.
Wann liegt Berufsunfähigkeit vor?
Wenn man von Berufsunfähigkeit spricht, meint man eigentlich eine „bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit“. In der Regel liegt Berufsunfähigkeit dann vor, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen voraussichtlich dauerhaft (mindestens sechs Monate) außerstande ist, seinen zuletzt ausgeübten Beruf zu mindestens 50% auszuüben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Versicherte grundsätzlich noch arbeiten kann, sondern ob er seinem konkreten Beruf – in der zuletzt ausgeübten Form – zu mindestens 50% nachgehen kann.
Alkoholsucht kann diese Voraussetzung erfüllen, etwa wenn die Erkrankung zu kognitiven Einschränkungen, körperlichen Folgeerkrankungen oder psychischen Begleiterkrankungen (z.B. Depressionen, Angststörungen) führt, die eine Berufsausübung unmöglich machen bzw. die Voraussetzungen der BU-Klausel eines Versicherungsvertrages (siehe oben) damit erfüllt sind.
Alkoholsucht als anerkannte Erkrankung
Alkoholsucht ist eine medizinisch anerkannte chronische Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO klassifiziert sie unter der ICD-10 als „(F10) Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“. ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“. Sie ist ein weltweit einheitliches System zur Klassifikation von Krankheiten und Gesundheitsproblemen und stellt für Ärzte, Krankenhäuser und Versicherern einheitliche Diagnoseschlüssel dar.
In schweren Fällen kann die Alkoholerkrankung zu erheblichen funktionellen Einschränkungen führen – bis hin zur völligen Arbeitsunfähigkeit. Gerichte erkennen Alkoholsucht im Einzelfall als möglichen Auslöser für eine Berufsunfähigkeit an. Entscheidend ist jedoch der Nachweis, dass die Suchterkrankung in ihrer Ausprägung tatsächlich die Arbeitsfähigkeit in der konkret ausgeübten Tätigkeit nicht unerheblich einschränkt.
Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht
Ein häufiger Streitauslöser in BU-Verfahren ist die sog. „vorvertragliche Anzeigepflicht“. Beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung ist der Versicherungsnehmer in der Regel verpflichtet, alle ihm bekannten gefahrerheblichen Vorerkrankungen – darunter auch eine frühere oder bestehende Suchterkrankung – wahrheitsgemäß anzugeben.
Wurde eine Alkoholsucht verschwiegen und stellt sich dies im Leistungsfall heraus (zum Beispiel mittels ärztlicher Unterlagen), kann der Versicherer den Vertrag im Einzelfall anfechten oder vom Vertrag zurücktreten – selbst, wenn die Berufsunfähigkeit auf einer anderen Ursache beruht. Auch frühere Entzugsbehandlungen oder psychotherapeutische Maßnahmen müssen im Zweifel angegeben werden (näher hierzu: Arglistige Täuschung durch Nichtangabe einer Alkoholerkrankung (OLG Celle)).
Problem: Vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalles
Grundsätzlich besteht die Leistungspflicht in der Berufsunfähigkeitsversicherung unabhängig davon, wie es zu der Berufsunfähigkeit gekommen ist. Jedoch bestehen häufig auch Risikoausschlüsse wie der der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalles. Versicherer argumentieren bei Alkoholsucht mehrfach, der Versicherungsfall sei vorsätzlich herbeigeführt worden. Das Argument lautet häufig: „Der Betroffene habe durch anhaltenden Alkoholkonsum seine Berufsunfähigkeit selbst verschuldet.“ Zumindest bei Beginn der Sucht trifft in der Regel der Vorsatz- oder grobe Fahrlässigkeitsvorwurf auf das reine Konsumieren zu. Allerdings muss sich der Vorsatz auf die Herbeiführung der Berufsunfähigkeit nicht nur auf die zugrunde liegende Gesundheitsbeeinträchtigung richten. Und genau dieser Aspekt liegt regelmäßig nicht vor. Die Gerichte argumentieren, dass ein suchtbedingter Kontrollverlust vorliegt. In diesen Fällen fehlt es in der Regel an dem für Vorsatz erforderlichen bewussten und gewollten Herbeiführen des Versicherungsfalls. Auch obliegt dem Versicherer der Beweis für ein entsprechendes Verhalten des Versicherungsnehmers, wenn er sich auf den Ausschluss beruft.
Fazit und Handlungsempfehlung
Alkoholsucht kann – wie viele andere schwere Erkrankungen auch – im Einzelfall zur bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit führen und Leistungsansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung auslösen. Der Weg zur Anerkennung der Leistungsverpflichtung durch die Berufsunfähigkeitsversicherung ist für Versicherte jedoch besonders herausfordernd, nicht selten auch äußerst langatmig. Neben der medizinischen Nachweisführung ist ebenso die Darlegung der Tätigkeit als auch der entsprechenden Einschränkungen unumgänglich (hier weiterführend: Ursprungsberuf oder letzte Tätigkeit im BU-Leistungsfall).
Weitere lesenswerte Beiträge zur Berufsunfähigkeitsversicherung sind nachstehend zu finden: Berufsunfähigkeitsversicherung.
Lesetipp der Redaktion
- Muss der Versicherte auch ungefragte Angaben im BU-Antrag machen?
- Darf der Versicherer eigentlich die BU-Rente kürzen?
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Leserkommentare
Comments
ergänzender Hinweis zu den Mitwirkungspflichten
Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht auch noch, dass nur wenige Versicherer in ihren Versicherungsbedingungen klarstellen:
„Die versicherte Person ist nicht verpflichtet, Diäten einzuhalten oder einen Suchtentzug vorzunehmen, selbst wenn dies vom behandelnden Arzt angeordnet wurde und medizinisch indiziert ist.“
Die meisten Gesellschaften äußern sich diesbezüglich leider nicht.
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