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15. Oktober 2019
Beratungspflichten im digitalen Versicherungsvertrieb

Beratungspflichten im digitalen Versicherungsvertrieb

Potenzielle Versicherungsnehmer nutzen algorithmisch gesteuerte, automatisierte Entscheidungsprozesse, um ihren gewünschten Vertrag zu finden. Problematisch ist allerdings, dass der Nutzer in der Regel nicht weiß, dass er im Rahmen des digitalen Versicherungsvertriebs nur nicht nachvollziehbar vorausgewählte Angebote wahrnehmen kann, erklärt Dr. Frank Baumann, Fachanwalt für Versicherungsrecht bei der Sozietät Wolter Hoppenberg.

Der herkömmliche Vertrieb von Versicherungsverträgen muss sich einer wachsenden digitalen Konkurrenz stellen. Dabei geht es nicht nur um den Online-Direktvertrieb durch Versicherer, sondern auch um Versicherungsmakler, Vergleichsportale sowie InsurTechs und Versicherungsmakler-Apps.

Einigkeit besteht darüber, dass auch im Rahmen des digitalen Versicherungsvertriebs eine Beratung stattzufinden hat, die den rechtlichen Anforderungen des § 61 VVG gerecht wird. Vor der Umsetzung der Insurance Distribution Directive in deutsches Recht war dies durchaus umstritten. So wurde zum Teil die Rechtsauffassung vertreten, die Vorschrift des § 61 Abs. 1 Satz 1 VVG sei im digitalen Versicherungsvertrieb in einer analogen Anwendung des § 6 Abs. 6 VVG a. F. suspendiert. Dem ist der Gesetzgeber nicht gefolgt, sondern hat das in § 6 Abs. 6 3. Variante VVG vormals vorgesehene Privileg schlicht und ergreifend gestrichen. Daraus kann der eindeutige gesetzgeberische Wille abgeleitet werden, dass auch im Internetvertrieb grundsätzlich eine Beratung stattfinden muss. Das Streichen der sich früher aus § 6 Abs. 6 3. Variante VVG ergebenden Bereichsausnahme kann darüber hinaus als klares Votum des Gesetzgebers für das Bestehen gleich hoher Anforderungen – unabhängig von der Form des Versicherungsvertriebs – gesehen werden. Die sich aus § 61 Abs. 1 VVG ergebenden Anforderungen gelten folglich auch für den digitalen Versicherungsvertrieb.

Digital bedeutet nicht Verzicht auf Beratung

Auch wenn der Online-Kunde diesen Abschluss gerade deshalb wählt, weil er schnell zum Ziel kommen will, muss der digital agierende Versicherungsvermittler das ihm angetragene Risiko analysieren und den Bedarf des Kunden ermitteln. Nach dem gesetzgeberischen Willen geht mit der Wahl des digitalen Vertriebswegs kein konkludenter Verzicht des Versicherungsnehmers auf Beratung einher, denn liegt ein Fernabsatzvertrag im Sinne des § 312c BGB vor, so führt dies nur zu dem Privileg, dass für den Verzicht im Sinne des § 61 Abs. 2 Satz 1 VVG nicht eine gesonderte schriftliche Erklärung des Versicherungsnehmers erforderlich ist, sondern ein Verzicht in Textform ausreicht. Ist es demzufolge aufgrund der Wahl des Vertriebswegs nicht möglich, das Risiko korrekt zu analysieren und den Bedarf des Kunden umfassend zu ermitteln, geht dies nicht zulasten des Kunden, weil sich dieser für den Abschluss eines Versicherungsvertrags über das Internet entschlossen hat. Der Mangel der Sachverhaltsaufklärung geht zulasten des Versicherungsvermittlers, der seinen Kunden eine Beratung anbietet, die eben nicht der persönlichen Beratung entspricht. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, dass der digital agierende Versicherungsvermittler seinen Kunden insbesondere darauf hinweist, dass die Auswahl des empfohlenen Versicherungsprodukts letztendlich auf dem filterbasierten Sortieren von Nutzerdaten und einem darauf basierenden von vornherein und einzelfallunabhängig geregelten Algorithmus beruht.

Beratungsoption ist keine Beratung

Besondere Anforderungen an die Qualität der Beratung und Dokumentation stellt die Rechtsprechung vor allen Dingen dann, wenn der Versicherungsmakler empfiehlt, vorhandene Versicherungsverträge durch neu abzuschließende zu ersetzen. Hier verlangt die Rechtsprechung, dass er den Versicherungsnehmer über sämtliche Folgen des Wechsels aufklären muss, indem er ihm einen nachvollziehbaren und geordneten Überblick über alle wesentlichen leistungs- und beitragsrelevanten Unterschiede zwischen bestehenden und angebotenen Versicherungsangeboten verschafft. Diese Pflicht gilt auch für den digitalen Versicherungsvertrieb. Auch der „Internetvermittler“ muss die wesentlichen Produktmerkmale wie Leistungen, Prämien, Vor- und Nachteile verschiedener Tarife sowie die für die Entscheidung des Kunden bedeutsamen Umstände wie steuerliche Konsequenzen ebenso darstellen, wie vorhandenen und möglichen zukünftigen Versicherungsschutz gegenüberzustellen. Das Erfüllen dieser weitreichenden Beratungspflichten könnte sich im Rahmen des digitalen Versicherungsvertriebs als äußerst schwierig darstellen.

Es reicht im Zuge des digitalen Versicherungsvertriebs nicht aus, dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit einer persönlichen Beratung anzubieten, um das Risiko einer Falschberatung „abzufedern“, denn die bloße Möglichkeit, eine Beratung in Anspruch zu nehmen, stellt für sich genommen noch keine Beratung dar. Wer demzufolge nur die Möglichkeit einer Beratung angibt, tatsächlich aber keine Beratung leistet, berät eben nicht. Nimmt der Kunde im Rahmen des digitalen Versicherungsvertriebs die ihm angebotene Möglichkeit einer persönlichen Beratung nicht wahr, so stellt sich demzufolge nicht die Frage, ob der Versicherungsvermittler überhaupt zur Be­ratung verpflichtet war, sondern nur, ob dem Versicherungsnehmer der Vorwurf eines Mitverschuldens zu machen ist.

Vermehrt Rechtsprechung zu erwarten

Wenig überzeugend ist es, den Umfang der Beratungspflichten an den damit einhergehenden Programmierungsaufwand zu knüpfen. Ähnlich wie sich ein Versicherungsmakler bei einer persönlichen Beratung nicht darauf berufen kann, die gesetzeskonforme Beratung des Kunden verursache bei ihm zu hohe Kosten, wird sich ein Internetvermittler nicht auf technische Schwierigkeiten berufen können, die der korrekten Erfüllung der Beratungspflichten entgegenstehen.

Zum Teil wird im Rahmen des digitalen Versicherungsvertriebs darauf hingewiesen, dass Frageprozesse, die auf einer vorprogrammierten Struktur beruhen, wesentlich tiefergehend als eine persönliche Beratung seien. Umfangreiche Drop-down-Menus sollen es dem Vertragsinteressenten ermöglichen, sich Stück für Stück dem idealen Vertrag zu nähern. Auch wird die Möglichkeit eines Videos oder Chats angeboten. Grundsätzlich bestehen gegen diese Form der Beratung keine Bedenken, so sie denn den sich aus § 61 Abs. 1 Satz 1 VVG ergebenden Beratungspflichten des Vermittlers gerecht wird. Dies bedeutet, dass zum Beispiel im Zuge eines strukturierten Befragungsprozesses widersprüchliche Angaben erkannt werden. Auch darf der Befragungsprozess am Ende nicht so verwirrend für den Versicherungsnehmer sein, dass die Gefahr eines vorzeitigen Abbruchs des Beratungsprozesses droht. Denn auch wer viele Fragen stellt, muss nicht zwangsläufig die richtigen Antworten erhalten.

Abschließend sei gesagt, dass der fehlende persönliche Kontakt zum Kunden Haftungsrisiken birgt, die nicht auf den Versicherungsnehmer abgewälzt werden können. Auch wenn sich die Rechtsprechung bislang noch relativ wenig mit Haftungsfragen im Rahmen der digitalen Versicherungsvermittlung auseinandergesetzt hat, darf erwartet werden, dass sich dies aufgrund der erheblichen Zunahme der Geschäftstätigkeit digitaler Versicherungsvermittler ändern wird.

Bild: © denisismagilov – stock.adobe.com

Den Artikel lesen Sie auch in AssCompact 10/2019, Seite 160 f. und in unserem ePaper.

 
Ein Artikel von
Dr. Frank Baumann