Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hat die Berufung eines Versicherers in einem Streit um eine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) zurückgewiesen. Das Unternehmen wollte den Vertrag für nichtig erklären. Es warf dem Versicherungsnehmer vor, bei den Gesundheitsfragen falsche Angaben gemacht zu haben und unterstellte ihm arglistige Täuschung. Es handelte sich um einen speziellen Fall, bei dem es auch um Sprachkenntnisse, Tele-Underwriting und Beweislast ging.
Hintergrund des Vertragsabschlusses und Ablehnung des Leistungsantrags
Bei dem Versicherungsnehmer handelte sich um einen gebürtigen Mexikaner, der seit 2006 in Deutschland als Reinigungskraft arbeitete und nur spanisch und englisch spricht. Im Jahr 2012 entschied er sich, eine BU-Versicherung abzuschließen und stellte über einen Ausschließlichkeitsvermittler einen Antrag auf Abschluss eines BU-Vertrags, wobei sein Lebensgefährte übersetzte. Der Vermittler kreuzte im Laufe des Gesprächs sämtliche Gesundheitsfragen mit „nein“ an. Der Antragsteller erhielt dann den Antrag postalisch zugeschickt, unterzeichnete ihn, worauf ein Versicherungsvertrag zustande kam. Im Zeitraum vor und nach der Antragstellung nahm der Mann eine größere Anzahl ärztlicher Behandlungen unter anderem wegen depressiver Episoden, Rückenbeschwerden und Schmerzen in den Handgelenken bzw. Unterarmen wahr, was aber nicht zur Sprache kam.
Im Jahr 2017 meldete der Mann mit den Diagnosen Rhizarthrose und rechtsseitige Meniskopathie Leistungsansprüche aus der BU bei seinem Versicherer an. Dieser lehnte seine Eintrittspflicht ab und erklärte den Rücktritt vom Vertrag mit der Begründung, der Versicherungsnehmer habe seine vorvertraglichen Anzeigepflichten verletzt. Die Gesellschaft führte im Wesentlichen an, der Kläger habe Rückenbeschwerden nicht offengelegt, wegen derer er innerhalb von fünf Jahren vor Antragstellung in ärztlicher Behandlung gewesen sei. Bei Kenntnis dieser Leiden hätte er einen entsprechenden Leistungsausschluss vereinbart.
Streit um Gesundheitsfragen bei Vertragsschluss
Gegen die Ablehnung des Versicherers ging der Mann gerichtlich vor. Er behauptete, nicht in der Absicht gehandelt zu haben, den Versicherer über seinen Gesundheitszustand zu täuschen, um ihn zu einer Vertragserklärung zu bewegen. Der Vermittler habe ihn lediglich gefragt, ob er an Erkrankungen leide, ohne dabei auf einen Fünfjahreszeitraum vor Antragstellung Bezug zu nehmen. Der Kläger sei daher davon ausgegangen, dass nach etwaigen schweren aktuellen Erkrankungen gefragt werde, was er verneint habe. Rückenbeschwerden und eine mittelgradige depressive Episode habe er nicht angegeben, da er diesen keine Bedeutung beigemessen habe. Überdies seien die nicht erfassten Erkrankungen und Beschwerden nicht mitursächlich für die Berufsunfähigkeit gewesen. Er sei der deutschen Sprache nicht mächtig und habe die Antragsunterlagen ohne weitere Durchsicht und Prüfung auf Vollständigkeit und Richtigkeit unterschrieben.
Der Versicherer widersprach: Der Vermittler sei bei dem telefonischen Beratungsgespräch sämtliche Gesundheitsfragen wörtlich mit dem Antragsteller einzeln durchgegangen und habe dessen Antworten in den Antragsbogen eingetragen. Der Versicherungsnehmer habe die Fragen wissentlich falsch beantwortet. Der Vermittler selbst gab an, sich nicht mehr genau erinnern zu können, ob und wie die Gesundheitsfragen gestellt wurden.
Keine arglistige Täuschung erkennbar
Das zunächst befasste Landgericht folgte der Argumentation des Klägers und verurteilte den Versicherer zur Zahlung rückständiger Berufsunfähigkeitsleistungen sowie künftiger Rentenzahlung und Beitragsbefreiung. Der Vertrag sei nicht wirksam angefochten worden. Es könne nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob und wie die Gesundheitsfragen gestellt wurden. Der Kläger habe die Frage nach seinem Gesundheitszustand jedenfalls nicht vorsätzlich falsch beantwortet. Er und auch sein übersetzender Lebensgefährde sei zum Zeitpunkt des Antragsgesprächs davon ausgegangen, dass mit der Frage lediglich ernsthafte bzw. schwere Krankheiten gemeint seien. Und auch als der Kläger das Antragsformular unterzeichnet habe, habe er die Beklagte nicht arglistig über seinen Gesundheitszustand getäuscht, denn er sei der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig. Der Kläger sei vielmehr davon ausgegangen, dass in dem Antragsformular keine über das Telefonat hinausgehenden Fragen enthalten seien und er dieses einfach unterzeichnen könne. Da der Kläger die Anzeigepflicht weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt habe, habe dem Versicherer auch kein Rücktrittsrecht zugestanden. Der Kläger habe lediglich einfach fahrlässig gehandelt.
Berufung scheitert: Keine wirksame Anfechtung möglich
Auf dieses Urteil hin ging der Versicherer in Berufung. Der Kläger verteidigte das angefochtene Urteil. Die pauschale Frage „gesund oder krank“ habe er subjektiv zutreffend beantwortet. Wären weitere Fragen zu beantworten gewesen, hätte es ja wohl einen fachkundigen Übersetzer benötigt. Die Frage sei so weit gefasst, dass sie eine unzulässige Risikoüberwälzung auf den Versicherungsnehmer mit sich bringe, und könne deshalb keine Anzeigepflicht auslösen. Auch in dem „blinden“ Unterzeichnen des Antrags liege angesichts der fehlenden Sprachkenntnisse keine arglistige Täuschung.
Die Berufung des Versicherers blieb erfolglos. Laut Urteil des OLG Frankfurt konnte er nicht wirksam gemäß §§ 19 Abs. 2, 21 Abs. 1 VVG vom Vertrag zurücktreten, denn es fehle an einer unrichtigen Beantwortung ordnungsgemäß gestellter, hier: formularmäßiger, Antragsfragen. Der Versicherer hat nicht bewiesen, dass ein mit einer hinreichenden Möglichkeit der Kenntnisnahme verbundener Zugang der Gesundheitsfragen beim Antragsteller akustisch bzw. in der erforderlichen Textform (§ 19 Abs. 1 VVG) bewirkt wurde. Weder ist bewiesen, dass die Antragsfragen dem Kläger während des telefonischen Antragsgesprächs gestellt wurden, noch ist bewiesen, dass der Kläger in diesem Gespräch oder im Rahmen der anschließenden Übersendung des Antragsformulars auf das Erfordernis der erneuten Durchsicht des vorausgefüllten Formulars hingewiesen wurde.
Unter anderem führte das Gericht auch aus, dass es dem Kläger in der konkreten Gesprächssituation des Tele-Underwritings nicht möglich war, aus Körpersprache oder Mimik des Vermittlers unmittelbare Erkenntnisse zu ziehen, die ihn gegebenenfalls zu einem zutreffenden Verständnis der Pauschalfrage und zu einer zutreffenden Einordnung seiner Krankengeschichte hätten bringen müssen. Hinzu kommt, dass in der spezifischen Situation des Tele-Underwritings der im Geschäftsleben sonst übliche formale Rahmen, wie er sich beispielsweise bei einem Gespräch in einer Versicherungsagentur durch die Geschäftsräume oder bei der Online-Beantragung durch eine offiziell anmutende Gestaltung der Website zeigt, fehlt, was eine zusätzliche mögliche Quelle von Missverständnissen eröffnet. Bei dem hier vorliegenden Zusammentreffen von Pauschalfrage und Tele-Underwriting sind die Anforderungen an die Widerlegung der Darlegungen des Versicherungsnehmers wegen der abstrakt hohen Gefahr von Fehlverständnissen und Fehleinschätzungen erhöht. Eine restriktive Handhabung ist schließlich auch deshalb geboten, weil die Frage „gesund oder krank“ – wie auch vom Vermittler angegeben – dem Versicherer allenfalls eine Vorselektion, aber nicht einmal eine halbwegs sichere Einschätzung des versicherten Risikos im Interesse einer verlässlichen Prämienkalkulation ermöglicht.
Non liquet-Entscheidung – Aussage gegen Aussage
Letztlich handelt es sich bei den Urteilen um sogenannte „Non liquet“-Entscheidungen. Im deutschen Recht bezeichnet es eine Situation, in der ein Gericht nach der Beweisaufnahme nicht in der Lage ist, eine klare Entscheidung über eine Tatsachenfrage zu treffen, da die Beweise nicht ausreichen oder widersprüchlich sind. Die Beweislast lag aber bei dem Versicherer, die konnte er allerdings nicht erbringen. (bh)
OLG Frankfurt, Urteil vom 06.06.2025, Az: 7 U 20/23
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