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11. August 2022
LV: Nicht-Vorlage an den EuGH muss richtig begründet sein
Woman judge hand holding gavel to bang on sounding block in the court room.

LV: Nicht-Vorlage an den EuGH muss richtig begründet sein

Der VGH Rheinland-Pfalz hat einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die die Verpflichtung nationaler Gerichte zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH betrifft. Konkret geht es um das in den Lebensversicherungsrichtlinien verbürgte Widerspruchsrecht.

Ein Versicherungskunde hat im Jahr 2016 den Widerspruch zu einem 2002 abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrag erklärt, der zum vereinbarten Vertragsende im März 2012 bereits vollständig abgewickelt worden war. Der Kunde argumentierte, er sei fehlerhaft über sein Widerspruchsrecht belehrt worden und außerdem habe er nur unzureichende Verbraucherinformationen erhalten, daher sei sein Widerspruch zulässig.

LG Trier: Versicherungsvertrag nicht aufgrund des Widerspruchs unwirksam

Das Landgericht Trier (LG) hat dann allerdings die unter anderem auf Rückabwicklungsansprüche in Höhe von 17.319,51 Euro gerichtete Klage des Versicherungskunden abgelehnt, da der Versicherungsvertrag nicht aufgrund des Widerspruchs unwirksam geworden sei. Dabei ließ das Gericht offen, ob die Belehrung über das Widerspruchsrecht ordnungsgemäß war. Der Ausübung des Rücktrittsrechts stehe der Einwand des Rechtsmissbrauchs wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben entgegen, so das LG. Insbesondere sei der Bestand des Vertrages über eine sehr lange Zeit, auch noch nach endgültiger Vertragsabwicklung, vom Kunden nicht infrage gestellt worden.

OLG Koblenz: Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nicht nur unter EuGH-Voraussetzungen festgestellt werden

Mit seiner Berufung hatte der Versicherungskunde dann auch vor dem Oberlandesgericht Koblenz (OLG) keinen Erfolg: Es treffe entgegen der Auffassung des Kunden nicht zu, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nur festgestellt werden könne, wenn die vom EuGH entwickelten Voraussetzungen eines Rechtsmissbrauchs – insbesondere ein subjektives Element – vorlägen. Der EuGH erkenne an, dass die nationalen Gerichte einen Rechtsmissbrauch nach nationalem Recht prüfen und feststellen dürften, wenn keine europäischen Regelungen zum Rechtsmissbrauch getroffen seien.

Demgegenüber seien die EuGH-Entscheidungen, auf die der Kunde sich berufe, zu Verbraucherkrediten und nicht zum Lebensversicherungsrecht ergangen und daher nicht auf den Lebensversicherungsvertrag übertragbar. Auch der Sinn der Lebensversicherungsrichtlinien werde durch die Anwendung der nationalen Grundsätze rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht gefährdet. Die hiergegen gerichtete Anhörungsrüge wies das OLG zurück.

Versicherungskunde legt Verfassungsbeschwerde ein

Daraufhin wandte sich der Versicherungskunde mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die OLG-Beschlüsse und machte eine Verletzung des Willkürverbots im Hinblick auf den gesetzlichen Richter und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz geltend. Insbesondere habe das OLG willkürlich gegen seine Pflicht zur Vorlage an den EuGH verstoßen. Es habe nämlich eine klare oder geklärte Rechtslage des Unionsrechts, die eine Vorlage entbehrlich machen würde, ohne nachvollziehbare Begründung unterstellt. Es sei insoweit schon zweifelhaft, ob der Rechtsmissbrauchseinwand in Fällen unzureichender Belehrung über das Widerspruchsrecht unionsrechtlich überhaupt angewendet werden dürfe.

Eindeutig geklärt sei spätestens seit einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2021 jedenfalls, dass der Berufung auf ein unionsrechtlich begründetes Widerspruchsrecht eine allein nach nationalen, ausschließlich objektiven, Kriterien beurteilte Rechtsmissbräuchlichkeit nicht entgegengehalten werden dürfe; vielmehr müsse stets auch ein subjektives Element vorliegen. Die beklagte Lebensversicherung des Ausgangsverfahrens hielt die Verfassungsbeschwerde dagegen für unzulässig, da die Vorlagepflicht nicht, jedenfalls aber nicht willkürlich, verletzt worden sei. Die angegriffene Entscheidung sei vertretbar und überzeugend begründet und stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie zahlreicher Obergerichte.

Verfassungsbeschwerde hat vor dem VGH Rheinland-Pfalz Erfolg

Die Verfassungsbeschwerde des Versicherungskunden hatte nun vor dem Verwaltungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (VGH) Erfolg: Der OLG-Beschluss, mit dem die Berufung zurückgewiesen wurde, verletze den klagenden Kunden in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 6 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV –). Der EuGH sei gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 LV. Komme ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nach, könne dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen sein.

OLG hat Nicht-Vorlage an den EuGH nicht richtig begründet

Das Fachgericht müsse eine nachvollziehbare, vertretbare Begründung dafür geben, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den EuGH bereits entschieden oder die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibe. Diese Anforderungen habe das OLG aber nicht gewahrt. Es sei nämlich nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet gewesen, ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH dazu durchzuführen, ob und unter welchen Voraussetzungen es mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn die Ausübung eines durch die Lebensversicherungsrichtlinien garantierten Widerspruchsrechts wegen Rechtsmissbrauchs des Versicherungsnehmers ausgeschlossen wird, obwohl dieser nicht ordnungsgemäß über sein Recht belehrt wurde.

Das Oberlandesgericht habe keine hinreichend tragfähige Begründung gegeben, warum es von einer Vorlage abgesehen habe. Es könne sich aufgrund der jüngsten Entscheidung des EuGH zur Verbraucherkreditrichtlinie zunächst nicht ohne Weiteres auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Handhabung des Rechtsmissbrauchseinwands im Lebensversicherungsrecht und des Bundesverfassungsgerichts, das diese unter dem Blickwinkel des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht beanstandet hatte, stützen. Auch im Übrigen lieferten die OLG-Ausführungen nach Argumentation des VGH Rheinland-Pfalz keine vertretbare und nachvollziehbare Begründung für das Absehen von einer Vorlage. So habe sich das OLG insbesondere nicht hinreichend mit der aktuellen Rechtsprechung des EuGH und mit den Zielen des in den Lebensversicherungsrichtlinien gewährleisteten Rücktrittsrechts auseinandergesetzt.

Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter erfolgreich war, könne schließlich dahinstehen, ob zugleich der vom Beschwerdeführer ebenfalls gerügte allgemeine Justizgewährleistungsanspruch verletzt sei. (ad)

VGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22.07.2022 – VGH B 70/21

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