Der 12. Zivilsenat des OLG Karlsruhe hat im Rahmen eines aktuellen Urteils (Az.: 12 U 156/16) darauf hingewiesen, dass es in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen für einen Versicherungsnehmer nach der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes die Pflicht besteht, auch ohne entsprechende Frage des Versicherers in einem BU-Versicherungsantrag auf gefahrenerhebliche Umstände hinzuweisen: Während manche das Vorliegen eines Umstands genügen ließen, dessen Gefahrerheblichkeit evident sei oder auf der Hand liege, forderten andere, dass es um Umstände gehe, die nach Einschätzung des Versicherungsnehmers gefahrerheblich seien. Demgegenüber wolle eine dritte Ansicht eine spontane Aufklärungspflicht nur für Umstände bejahen, die zwar offensichtlich gefahrerheblich, aber so ungewöhnlich seien, dass eine auf sie zielende Frage des Versicherers nicht erwartet werden könne.
Das OLG Karlsruhe verweist zugleich darauf, dass es bereits vor der VVG-Reform in erster Linie Sache jeder Vertragspartei gewesen sei, ihre Interessen selbst wahrzunehmen und zu erkennen zu geben, auf die Offenbarung welcher persönlichen Umstände ihres Vertragspartners sie Wert legt für ihre Entscheidung, sich ihm gegenüber vertraglich zu binden. Scheue sich ein Versicherer aus geschäftstaktischen Gründen, eine Frage zu stellen, deren wahrheitsgemäße Beantwortung nach seiner Darstellung maßgeblich für seine Entscheidung sei, ob er den angetragenen Vertrag schließe, so liefere er selbst den Beweis dafür, dass er die unaufgeforderte Offenbarung des betreffenden Sachverhalts nicht erwarten könne und dürfe. Hieran hat sich nach Auffassung des OLG Karlsruhe durch die Einführung des neuen § 19 VVG, der die berechtigten Interessen des Versicherungsnehmers besser schützen soll als der frühere § 16 VVG, nichts geändert.
Gesetzgeber wollte durch VVG-Reform spontane Anzeigepflicht nicht erweitern
Es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber die spontane Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers – auch nicht in Teilbereichen – erweitern wollte. Dementsprechend habe auch der Bundesgerichtshof zur insoweit vergleichbaren spontanen Aufklärungsobliegenheit im Rahmen der Leistungsprüfung entschieden, dass der Versicherungsnehmer Erklärungen, die die Leistungspflicht des Versicherers betreffen, außer in sehr restriktiv zu handhabenden Ausnahmefällen nicht unaufgefordert abzugeben braucht, sondern vielmehr abwarten darf, bis der Versicherer an ihn herantritt und Informationen anfordert.
Berufung: Rechtsfehlerhaft angenommene nicht erfüllte spontane Anzeigepflicht
Die Berufung des Klägers, die sich im konkreten Fall auf die von der Erstinstanz (LG Heidelberg, Az.: 2 O 90/16) rechtsfehlerhaft angenommene arglistige Täuschung wegen der nicht erfüllten spontanen Anzeigepflicht gestützt hatte, wurde vom OLG Karlsruhe in zweiter Instanz trotzdem abgewiesen. Allerdings deshalb, weil das OLG den Tatbestand der arglistigen Täuschung anstatt dessen durch die Tatsache erfüllt sah, dass der Kläger bereits zum Zeitpunkt des BU-Antrags und -Vertragsabschlusses schon nicht mehr vollumfänglich hatte arbeiten können.
Konkreter Sachverhalt
Die Parteien stritten konkret um Leistungsansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung, die der Kläger bei der beklagten Versicherungsgesellschaft im März 2010 mit Versicherungsbeginn zum 01.04.2010 abgeschlossen hatte. Der vom Kläger unterzeichnete Versicherungsantrag enthielt keine Gesundheitsfragen, sondern stattdessen unter der Überschrift „Bei Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsminderungsrenten bis 12.000 Euro“ folgende vorgedruckte und vom Kläger angekreuzte Erklärung: „Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfang meiner Berufstätigkeit nachzugehen. (Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gemäß Formular A122.)“ Das Formular A122 sah zahlreiche Gesundheitsfragen vor, die unter anderem auch Krankheiten „des Gehirns, Rückenmarks oder der weiteren Nerven“ betrafen.
Ein solches Formular füllte der Kläger nicht aus, obwohl er bereits bei Antragstellung wissentlich an einer 2002 diagnostizierten multiplen Sklerose erkrankt war. Seit 2005 hatte er aufgrund der Erkrankung einen anerkannten Grad der Behinderung von 40%, der im Jahr 2006 auf 50% und im Jahr 2009 auf 60% erhöht worden war. Ende August 2012 stellte der Kläger bei der Beklagten Leistungsantrag, da er aufgrund seiner Erkrankung seit Mai 2012 seine Vollzeittätigkeit als Orthopädietechniker nicht mehr ausüben konnte. Im März 2013 lehnte die Beklagte die Leistung ab und erklärte die Anfechtung des Vertrags aufgrund von arglistiger Täuschung.
OLG: „Arglistiges“ Verschweigen eines nicht anzeigepflichtigen Umstands keine Täuschung
Das OLG Karlsruhe betont in seinem Urteil vom 15.03.2018, dass das „arglistige“ Verschweigen eines nicht anzeigepflichtigen Umstands keine Täuschung im Sinne des Gesetzes darstelle. Die beklagte Versicherungsgesellschaft habe in ihrem Antragsformular für den Fall einer versicherten BU-Rente bis 12.000 Euro eine vorformulierte Erklärung des Versicherungsnehmers nur zu vier verschiedenen Krankheiten vorgesehen. Nur wenn der Versicherungsnehmer eine höhere Versicherungsleistung vereinbaren wollte oder sich gehindert sah, die vorgedruckte Erklärung abzugeben, sollte er den ausführlichen Fragenkatalog in einem Anlageformular beantworten, der sich unter anderem mit Krankheiten „des Gehirns, Rückenmarks oder der weiteren Nerven“ befasste und dort als Beispiel ausdrücklich „Multiple Sklerose“ nannte. Anders als das LG geht das OLG davon aus, dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer die Gestaltung des Antragsformulars so versteht, dass die Beklagte eine entsprechende Erkrankung dann nicht interessierte, wenn die beantragte BU-Rente unter 12.000 Euro liegt und wenn die vorformulierte Erklärung abgegeben werden konnte. Die Beklagte konnte umgekehrt nicht erwarten, dass Fragen, die sie nur unter bestimmten Umständen stellte, durch Antragsteller von sich aus auch dann beantwortet würden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen nicht vorlagen.
Knackpunkt Umfang der Arbeitsfähigkeit
Dennoch kam das OLG Karlsruhe im aktuellen Urteil zu dem Schluss, dass der Kläger die Beklagte getäuscht hat: Er hat der Beklagten durch Unterzeichnung der im Antragsformular angekreuzten Erklärung vorgespiegelt, dass er fähig sei, seiner Berufstätigkeit in vollem Umfang nachzugehen. Entgegen der Auffassung des Klägers seien zum Verständnis dieser Aussage aber nicht die Grundsätze des Arbeitsrechts, insbesondere nicht dessen Leistungsmaßstäbe, heranzuziehen, urteilt das OLG. Die Erklärung des Klägers sei objektiv falsch, wie das Gericht unter Zuhilfenahme von verschiedenen medizinischen Gutachten und Gutachtern feststellte: Seine von ihm geschilderten typischen Arbeitstätigkeiten seien bereits im März 2010 zum Zeitpunkt der Antragstellung merklich eingeschränkt gewesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 15.03.2018, Az.: 12 U 156/16; Vorinstanz: LG Heidelberg, Urteil vom 08.11.2016, Az.: 2 O 90/16
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