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16. Mai 2023
VGA/BWV-Runde zu Nachhaltigkeit und Einfluss der Versicherer

VGA/BWV-Runde zu Nachhaltigkeit und Einfluss der Versicherer

Anfang Mai diskutieren im Rahmen einer Veranstaltung von VGA München und BWV München eine Expertenrunde zum Thema Nachhaltigkeit in der Assekuranz. Es ging in die Tiefen von Vorgaben und Regulatorik und darum, wie die Umsetzung und der Weg zum Kunden gelingen können.

Nachhaltigkeit hat für die deutschen Versicherer aus verschiedensten Gründen eine hohe Bedeutung. Die Branche ist einerseits in ihren Geschäftsmodellen, Produkten und Kapitalanlagen betroffen, andererseits als Transformator der Wirtschaft, Förderer der Energiewende und auch als Arbeitgeber und als Einzelunternehmen. Die Versicherer nehmen eine Vorreiterrolle ein und trotzdem hängt die Branche noch mehr in der Regulatorik und im Berichtswesen als in der praktischen Umsetzung. Dort geht es eher noch stückchenweise voran.

Dies lässt sich einer Veranstaltung Anfang Mai in München entnehmen. Dazu eingeladen haben Lars Moormann, Geschäftsführer des BWV München, und Ralf Wargener, Vorsitzender des VGA Assekuranzclubs München. Als Referenten und Diskutanten nahmen teil: Tobias Grimm (Munich RE), Dr. Michaela Willert (GDV), Astrid Bayer, (Provinzial), Dr. Frank Schiller (DAV, Munich RE) und Sandra Wetzke (KPMG). Es moderierte AssCompact Chefredakteurin Brigitte Horn.

Perspektivwechsel: Aus dem Weltall zur Erde

Zunächst stimmen die Gastgeber die Besucher auf die Problematik des Klimawandels mit einem Video ein: Bereits 2018 sendete der deutsche Astronaut Alexander Gerst eine Videobotschaft direkt aus der Internationalen Raumstation ISS an seine noch nicht geborenen Enkelkinder – und damit an uns alle: Die Menschen hätten die Verantwortung, den Klimawandel in eine Richtung zu beeinflussen, die es auch nachfolgenden Generationen ermöglicht, ihr Leben auf dem schönen blauen Planeten zu führen.

Diese Vogelperspektive greift Tobias Grimm, Senior Consultant Climate Change Solutions, Munich RE, anschließend in seinem Impulsvortrag auf und verdeutlicht, wie stark der Klimawandel Schäden in ihrer Höhe als auch der Eintrittswahrscheinlichkeit beeinflusst hat und die Risiken weiter zunehmen. Die Pariser Klimaziele sind aus heutiger Sicht sehr ambitioniert. Insbesondere die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, scheint kaum umzusetzen zu sein.

Dennoch kann die Versicherungsbranche aus ihrer starken Rolle als Risikoträger und Investor, aber auch als hörbare öffentliche Stimme Einfluss nehmen. Das geschieht auf verschiedenen Ebenen: beginnend mit der Teilung von Erkenntnissen aus der Klimaforschung, über das aktive Riskmanagement bis hin zu Investitionen in erneuerbare und ESG-relevante Projekte. Munich RE selbst, beschreibt Grimm, nehme seine Verantwortlichkeiten hier an.

Die Versicherungsbranche hat sich gemeinsam den europäischen Klimazielen verpflichtet und will bis 2025 klimaneutral arbeiten bzw. ihre Kapitalanlagen bis 2050 klimaneutral ausgerichtet haben. Die zweite Rednerin Dr. Michaela Willert, Coordination Unit for Sustainability beim GDV, taucht mit ihrem Vortrag weiter in die Erdatmosphäre ein und zeichnet ein Bild des regulatorischen Rahmens, in dem diese Ziele dokumentiert und erreicht werden sollen. Die Branche hat sich auf den Weg gemacht und Strategien entwickelt, jetzt braucht es eine gute Umsetzung. Die gesetzlichen Anforderungen steigen. Aktive Versicherer können mit Startvorteilen bei der Umsetzung punkten, so die Nachhaltigkeitsexpertin.

Zudem sieht sie, dass noch einige Hausaufgaben zu machen sind: Wie kann ein positiver Impact messbar und transparent gemacht werden? Wie können Kundinnen und Kunden mitgenommen werden? Die Verbindung von Nachhaltigkeit und Versicherung wird bisher kaum gesehen. Das Vertrauen in Nachhaltigkeitsaussagen ist gering, weiß Willert zu berichten.

Die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA hat zudem ermittelt, dass aktuell bisher 5,7% der Kapitalanlagen der Versicherer in die Realwirtschaft den Vorgaben zur Nachhaltigkeit entsprechen. Ein Fortschritt ist, dass die Definition von Greenbonds, also festverzinsliche Finanzinstrumente, die zur Finanzierung von Projekten mit positiven Umwelt- und/oder Klimavorteilen verwendet werden, seit dem Frühjahr steht. Zudem kennt man nun „Artikel 8“ oder „Artikel 9“-Produkte. Aber was ist eigentlich ein „grünes“ Versicherungsprodukt? Die Definition ist noch nicht eindeutig, so Willert.

Nach den beiden Vorträgen geht es in die Diskussion. Diese leitet Brigitte Horn, Chefredakteurin von AssCompact. Dr. Frank Schiller, Vorstand der Deutschen Aktuarvereinigung und selbst Aktuar bei der Munich RE, bringt erstes Licht ins Dunkel:

Klassische so genannte „Artikel 6“-Anlagen berücksichtigen keine oder nur minimale ESG-Standards. „Artikel 8“-Anlagen berücksichtigen systematisch nachhaltige Investments („hellgrüne Investments“), während „Artikel 9“ -Anlagen ausschließlich aus nachhaltigen Investments bestehen und sich darüber hinaus auch nicht-finanziellen Nachhaltigkeitszielen verpflichten („dunkelgrüne Investments“).

Die Einstufungen der Anlagen kann sich jedoch verändern und ist teilweise auch zeitlich befristet. Das macht die Anlage- und Vorsorgeberatung für die Vertriebe der Branche nicht gerade einfacher, so Schiller. Seit August 2022 besteht zwar die Verpflichtung, in der Beratung die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kunden explizit zu erfragen. Aufgrund der vielen noch bestehenden Unsicherheiten scheint eine wirkungsvolle Umsetzung aktuell aber eher noch Wunschdenken zu sein.

Umstellung der Kapitalanlagen ist ein langer Prozess

Tobias Grimm, Senior Consultant Climate Change Solutions, Munich Re pflichtet bei: „Die Kapitalanlagenseite ist nicht so schnell steuerbar wie die Produktentwicklung. Außerdem kann es zu Interessenskonflikten bei den Versicherern kommen, zum Beispiel, wenn Kapitalanlagen in Gasprodukte erfolgt – die aktuell noch als grünes Investment gelten – und gleichzeitig die Zeichnung von Gasproduktionsrisiken abgelehnt wird.

Der Austausch zwischen Energiebranche und Assekuranz ist hier sehr wichtig und erfolgt auch laufend. CO2-Neutralität ist nicht über Nacht machbar. Deshalb gilt innerhalb der Nachhaltigkeitsstrategie der Versicherer auch der langfristige Zeitplan bis 2050.“

Kann dieses Ziel realistisch trotz langfristiger Vertragsbindungen und Laufzeiten erreicht werden? „Entscheidend wird sein, wie wir die Anlagen klassifizieren. Leisten die getätigten Kapitalanlagen einen echten Beitrag zur Nachhaltigkeit? Das müssen wir kritisch hinterfragen. Ob Staatsanleihen wirklich die Klimaneutralität erfüllen, hängt entscheidend von den konkreten Maßnahmen der emittierenden Staaten ab“, so Dr. Frank Schiller.

„So weiter machen wie bisher ist keine Option. Wir müssen Kapitalanlagen gut messbar machen bezüglich ihrer CO2-Emmissionen. Bei Aktien und Unternehmensanleihen ist das schon ordentlich möglich, bei Staatsanleihen und anderen Assets müssen wir noch besser werden“, erklärt Astrid Bayer, Nachhaltigkeitsbeauftragte der Provinzial Holding AG.

„Wir sollten uns Zwischenziele setzen auf dem Weg und dabei auch Industrien einbeziehen, die zwar noch zu den höheren CO2-Emittenten gehören, aber für den Wirtschaftskreislauf notwendig sind.“

Versicherer zwischen Wettbewerb und Verantwortung

Insofern ist einerseits die Frage, wohin fließen die Geldströme, aber auch, können Versicherer Wirtschaftsunternehmen bei der Risikoabsicherung ausschließen. Es herrscht traditionell Wettbewerb unter den Versicherern, auch dort, wo Einigkeit besteht, langfristig Risiken nicht mehr zu versichern, die den Weg zur Nachhaltigkeit nicht mitgehen. Dr. Michaela Willert betont: „Die Versicherungsunternehmen sind hier in der Umsetzungsverantwortung.“ Astrid Bayer ergänzt: „Der Markt wird es auch hier regeln: Versicherer, die den nachhaltigen Weg nicht mitgehen, werden Schwierigkeiten bekommen. Es ist eine Herausforderung, den Vertrieben und über diese den Kunden dieses komplexe Thema näherzubringen. Dennoch ist es wichtig zu erklären, welchen Einfluss ein Versicherer hat und was er mit seinem Beitrag beeinflussen kann. Es macht dann eben doch einen Unterschied, ob ich zu Versicherer A oder B gehe.“

In dem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, mit welchen Anreizen Investitionen in klimaneutrale Projekte gefördert werden können und könnte eine Steuerung über Solvency II hilfreich sein? Dazu Dr. Michaela Willert: „Die Branche braucht keine neuen Anreize. Problem ist, die passenden Anlagemöglichkeiten zu finden, die zu den nachhaltigen Strategien passen. Ein Lösungsansatz könnte über Public Private Partnerships erfolgen, also über die Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und Unternehmen der Privatwirtschaft in einer Zweckgesellschaft.“

Eine weitere Herausforderung ist die Datenverfügbarkeit. Verlässliche Ratings gibt es derzeit noch wenige. Der Austausch über eine Plattform wäre wünschenswert, wo Unternehmen selbst ihre Rohdaten einstellen können.

Bedeutung für Versicherungstechnik und Produktdesign

Welche Auswirkungen werden im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit generell auf die Versicherungstechnik und das Produktdesign gesehen? Auch mit dieser Frage beschäftigte sich das Expertenpanel.

Dr. Frank Schiller: „Es erfolgt bei den Produkten ein Abgleich, inwieweit diese mit den Nachhaltigkeitsentwicklungszielen vereinbar sind, beispielsweise die Gleichbehandlung unterschiedlicher Geschlechter in den Unisex-Tarifen in der Lebensversicherung.

Es geht aber noch weiter: Darf ein Versicherer in der LV-Risikoprüfung kranke Menschen anders behandeln als gesunde? Entsprechende Diskussionen laufen bereits, wie weit Versicherer inklusiv sein und ihre Risikoprodukte verfügbar machen müssen. Ist am Ende das ganze Geschäftsmodell dadurch gefährdet?

"In der Sachversicherung wird es bei exponierten Risiken wie zum Beispiel einem Zementwerk nicht mehr nur um Versicherung gehen, sondern um die Begleitung bei deren Transformation durch Beratungsleistungen, die die Risikosituation verbessern.“

Hier ist auch die Wohngebäudeversicherung zu erwähnen, um Kalkulation und Bezahlbarkeit für die Zukunft sicherzustellen. Tobias Grimm: „Wir müssen Anreize schaffen für Schutzmaßnahmen oder auch den Wiederaufbau an neuen weniger gefährdeten Orten. Das erfordert gesellschaftliches und politisches Umdenken. Der Bewusstseinswandel erfolgt mitunter langsam: Wenn Politik wider besseres Wissen neue Gewerbegebiete in überschwemmungsgefährdeten Zonen ausweist, geschieht das oft aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus, nicht aus ökologischen.

Klimaschutz ist auf der Welt nicht gleich ausgeprägt. Beispielsweise setzen Indien oder China ihre Prioritäten auf Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Versicherer berücksichtigen dies in ihrer internationalen Zeichnungspolitik bereits jetzt, indem sie Geschäft aufgeben – „Die Munich RE zeichnet keine neuen Kohlekraftwerke, da deren Nutzungslaufzeit deutlich über 2050 hinaus geht“ konkretisiert Tobias Grimm.

Wirkung auf Prämien, Gefahr des Greenwashings

Im Übrigen sind „grüne“ Risiken in der Versicherung nicht automatisch günstiger. Beispiel Mobilität: Elektroautos sind in der Schadenregulierung teurer als Verbrenner, da hier primär die PS risikorelevant sind und nicht der ökologische Aspekt. Auch darauf ging das Panel ein.

Grundsätzlich kann man bildhaft sagen, dass es bei einem nachhaltigen Produkt nicht ausreicht, für jeden Abschluss einen Baum zu pflanzen. Sehr schnell kommt man hier in die Ecke des „Greenwashings“. Es geht vielmehr um den Ersatz von Schäden durch höherwertige Leistungen, wenn ein Risiko dadurch anschließend nachhaltiger eingestuft werden kann. Auch heißt eine Devise „Reparieren statt Ersatz“, wenn dadurch das eine Förderung der Kreislaufwirtschaft angekurbelt werden kann.

Stellt sich noch die Frage nach der Kommunikation und wie die Branche diese gestalten sollte. Wenn es nach Dr. Michaela Willert geht, muss die Branche im ersten Schritt transportieren, was sie tut, „damit die Schornsteine nicht mehr so stark rauchen.“ „Im zweiten Schritt müssen die Vertriebe bei der Umsetzung der Regulatorik unterstützt und in die Lage versetzt werden, das Thema an die Kunden weitertragen zu können,“ ergänzt Astrid Beyer.

Abschließend gibt Brigitte Horn eine Frage in die Runde und bezieht sich damit noch einmal auf den Titel der Veranstaltung: Reichen nachhaltige Produkte und Kapitalanlagen aus, damit in der Branche alles gut wird?

Aus den Antworten der Panelisten wird deutlich, dass über der nachhaltigen Transformation des Kerngeschäfts die Vision nachhaltiger Versicherungsunternehmen als Ganzes steht. Dazu gehört genauso die Arbeitgeberattraktivität sowie die Ausbildung und Weiterentwicklung der Mitarbeitenden – in Zeiten des Fachkräftemangels eine ebenso wichtige Herausforderung der Branche.

Nachhaltigkeit muss berechenbar gemacht werden, zum Beispiel über die Ressourcenschonung im eigenen Geschäftsbetrieb und die Branche ist gut beraten, sich immer wieder die Brille des Kunden dabei aufzusetzen.

Sandra Wetzke, Manager Consulting Insurance CFRO bei der KPMG, die als Expertin zuvor tiefe Einblicke in Regularien und Rechnungslegung gab, bringt es auf den Punkt: „In ESG steckt nicht nur „Environment“, also Umwelt, sondern auch „S“ und „G“ – Soziale Verantwortung und Unternehmensführung.“ Das beinhaltet auch die Transformation von Arbeit. Die Umsetzung von Strategien geht nur mit den Menschen. Nur so gibt es für die Erreichung der ambitionierten Klimaziele eine realistische Chance, sagt Ralf Wargener, vom VGA München.

Bild v. l. n. r.: Ralf Wargener (VGA München) Brigitte Horn (AssCompact, Moderation), Tobias Grimm (MunichRe), Sandra Wetzke (KPMG), Dr. Michaela Willert (GDV), Astrid Beyer (Provinzial Holding), Dr. Frank Schiller (MunichRe), Lars Moormann (BWV München)

© VGA/BWV München