Ein Artikel von Björn Thorben M. Jöhnke, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Partner der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte
Wenn ein Versicherungsnehmer einen Versicherungsantrag bei einer Berufsunfähigkeitsversicherung stellt, ist er grundsätzlich verpflichtet, alle vom Versicherer in Textform und verständlich gestellten Gesundheitsfragen vollständig und wahrheitsgemäß zu beantworten. Wird diese Pflicht verletzt, kann der Versicherer unter Umständen vom Vertrag zurücktreten, ihn anfechten oder kündigen.
Aber wie ist zu verfahren, wenn relevante Informationen dem Antragsteller zwar bekannt sind, vom Versicherer aber gar nicht explizit abgefragt wurden? Muss der Versicherte solche Tatsachen dennoch mitteilen – auch ohne danach gefragt zu werden?
Streit um die Existenz einer spontanen Anzeigeobliegenheit
Fraglich ist, ob eine spontane Anzeigepflicht überhaupt noch besteht. Denn §19 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) legt ausdrücklich fest, dass nur die Fragen, die der Versicherer konkret und in Textform stellt, beantwortet werden müssen. Diese gesetzliche Vorgabe ersetzt die frühere Regelung des § 16 VVG alte Fassung, die noch eine umfassende Pflicht des Versicherungsnehmers zur Offenlegung aller risikorelevanten Umstände vorsah.
Einige Stimmen sehen dennoch Spielraum für Ausnahmen – insbesondere dann, wenn man auf die Treue- und Aufklärungspflicht (Offenbarungspflicht) aus §§ 123, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 242 BGB i.V.m. § 22 VVG abstellt. Allerdings wird diese Auffassung nicht einheitlich geteilt: Während manche eine solche Pflicht außerhalb des Anfechtungsrechts kategorisch ablehnen, halten andere sie in besonders gelagerten Ausnahmefällen für gerechtfertigt. Zur vertieften Behandlung der Streitfrage hinsichtlich des Bestehens einer spontanen Anzeigeobliegenheit sei auf den folgenden Beitrag verwiesen: „Die spontane Anzeigeobliegenheit – ein Mythos oder gelebte Pflicht?“.
Ausnahmsweise doch eine spontane Anzeigeobliegenheit?
Grundsätzlich gilt: Ohne ausdrückliche Nachfrage muss der Versicherte keine zusätzlichen Informationen liefern. Eine abweichende Bewertung kann jedoch dann in Betracht kommen, wenn besonders gravierende Umstände vorliegen, bei welchen dem Versicherungsnehmer deren Relevanz für den Vertragsschluss regelrecht „ins Auge springt“.
So argumentierte das OLG Hamm, dass die mit § 19 Abs. 1 VVG bezweckte Abschaffung der spontanen Anzeigepflicht grundsätzlich nicht zu unterlaufen sei. Aber: Eine spontane Anzeigeobliegenheit komme unter strengster Auffassung nur dann in Betracht, wenn Umstände von offenkundiger Gefahrerheblichkeit bestehen, die so selten und fernliegend wären, dass dem Versicherer kein Vorwurf gemacht werden könnte, diese nicht abgefragt zu haben. Zudem müssten diese gefahrerheblichen Umstände das Informationsinteresse des Versicherers in zentraler Weise berühren. Ist für den Antragsteller hingegen nachvollziehbar, dass der Fragenkatalog des Versicherers als abschließend zu verstehen ist, fehle es an der Grundlage für eine eigenständige Anzeigepflicht (OLG Hamm, Urt. v. 28.02.2024 – 20 U 224/23).
Wie hoch die Messlatte für das Bestehen einer offenkundigen Gefahrerheblichkeit ist, zeigt ein konkreter Fall des LG Münster: Trotz Kenntnis eines vorgeburtlich diagnostizierten hypoplastischen Linksherzsyndroms sah das Gericht hier keinen außergewöhnlichen Umstand. Der Versicherer hatte weder beim ursprünglichen Abschluss der Pflegetagegeldversicherung noch beim späteren Antrag auf Nachversicherung Fragen zum Gesundheitszustand des Kindes gestellt. Da selbst angeborene Erkrankungen vom Schutz umfasst waren, durfte der Antragsteller annehmen, dass diese Information nicht relevant ist (LG Münster, Urt. v. 03.01.2022 – 115 O 199/20).
Bekannte Diagnosen – kein Offenbarungszwang?
Wenn eine Erkrankung bereits vor Antragsstellung diagnostiziert wurde, entsteht daraus keine automatische Mitteilungspflicht – jedenfalls nicht, wenn der Versicherer keine entsprechenden Fragen gestellt hat. Der Gedanke dahinter: Versicherer sind als erfahrene Marktteilnehmer in der Lage, gezielte Fragen zu stellen, wenn ihnen bestimmte Risiken relevant erscheinen. Macht ein Versicherer das nicht, darf der Versicherungsnehmer davon ausgehen, dass entsprechende Informationen für die Risikoprüfung des Versicherers nicht erforderlich sind.
Eine Pflicht zur Offenbarung besteht daher nur in Ausnahmefällen – etwa, wenn die Relevanz einer Information so offenkundig ist, dass der durchschnittliche Antragsteller die Erheblichkeit für den Versicherer nicht übersehen kann. Auch der BGH sah hier keinen Anlass zur Korrektur und ließ eine Beschwerde des Versicherers nicht zu (BGH, Urt. v. 05.06.2024 – IV ZR 140/23.
Restriktiver Umgang mit Obliegenheit
Auch wenn manche Stimmen in Literatur und Rechtsprechung die spontane Anzeigeobliegenheit unter sehr engen Voraussetzungen anerkennen, bleibt festzuhalten: Eine generelle Pflicht zur unaufgeforderten Offenlegung gesundheitlicher Informationen besteht nicht. Der Versicherer trägt die Verantwortung, durch gezielte Fragen seinen Informationsbedarf zu decken. Nur in Ausnahmesituationen, in denen schwerwiegende Informationen objektiv erkennbar erheblich sind, kann eine Mitteilungspflicht entstehen.
Für die Praxis gilt: Ohne konkrete Nachfrage keine Offenbarungspflicht – es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor, bei denen sich die Relevanz der Information geradezu aufdrängt. Diese Fragestellung betrifft nicht nur die Berufsunfähigkeitsversicherung, sondern ist auch in anderen Versicherungssparten von Bedeutung. Ob tatsächlich eine spontane Anzeigeobliegenheit vorliegt, lässt sich demnach nur im jeweiligen Einzelfall beurteilen.
Weitere lesenswerte Beiträge zur Berufsunfähigkeitsversicherung sind nachstehend zu finden: Berufsunfähigkeitsversicherung.
Lesetipp der Redaktion:
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