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9. März 2021
„Dass eine größere Krankenkasse in die Knie geht, können wir nicht brauchen“

„Dass eine größere Krankenkasse in die Knie geht, können wir nicht brauchen“

Die gesetzlichen Krankenkassen steuern auf ein Milliardendefizit zu. Die Ursachen hierfür sind nicht nur in der Corona-Krise zu suchen. Im Hinblick auf die Pandemiekosten wurde kritisiert, die privaten Krankenversicherer würden sich zu wenig an der Finanzierung beteiligen. Doch warten 2021 noch andere Herausforderungen. Ein Interview mit dem Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jürgen Wasem.

Herr Prof. Dr. Wasem, die Corona-Pandemie belastet das Gesundheitssystem. Sprengt sie die finanziellen Grenzen und wäre die Situation auch ohne Pandemie schon schwierig?

Die schwierige finanzielle Situation hängt nur zum Teil mit der Pandemie zusammen. Es gibt die Einnahmeausfälle durch die Reduktion der wirtschaftlichen Aktivität wegen des Lockdowns. Und es gibt die zusätzlichen Ausgaben durch die Bekämpfung der Pandemie. Aber ein wichtiger Treiber sind auch die hohen Ausgaben, die die Gesundheitspolitik in den letzten Jahren wegen der gut laufenden Konjunktur beschlossen hat. Zahlreiche Gesetze sind seit 2013 beschlossen worden, die schon in ihrem Titel „Stärkung“ oder „Verbesserung“ hatten – und das hat regelmäßig Geld gekostet. Das holt uns jetzt ein.

Mit dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) will die Bundesregierung Kassen finanziell stabilisieren. Demnach erhalten diese einen Bundeszuschuss von 5 Mrd. Euro, 8 Mrd. Euro werden aus den Finanzreserven der Kranken­kassen in den Gesundheitsfonds überführt. Wie bewerten Sie diese Maßnahmen?

Die Finanzreserven der Krankenkassen kann man nur einmal verbraten, dann ist das Geld weg. Die Politik erkauft sich so die Zeit bis zur Bundestagswahl. Die strukturelle Lücke wird damit für das kommende Jahr umso größer. Außerdem ist klar, dass die Anreize für die Kassen, durch Sparsamkeit Finanzreserven aufzubauen, durch so eine Maßnahme nicht gerade gestärkt werden. Wobei ich auch sagen möchte, dass die Finanz­reserven teilweise auch dadurch entstanden sind, dass eine Reihe von Krankenkassen im Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen, dem sogenannten Risikostrukturausgleich, Vorteile hatten. Dass die Politik diese Vorteile jetzt „sozialisiert“, ist in gewisser Weise verständlich.

Dem GKV-Spitzenverband ist der Bundeszuschuss zu niedrig. Zwar gibt es Sonderregelungen für 2021, um dafür zu sorgen, dass bei allen Krankenkassen ausreichende Finanzreserven verbleiben, dennoch bemängelt der Verband eine fehlende Zukunftsstrategie. Wie prekär könnte es am Ende für die Krankenkassen werden?

Das Konzept des GPVG ist schon stark auf Kante genäht. Da muss insbesondere das Bundes­gesundheitsministerium sehr genau beobachten, ob es hier Entwicklungen gibt, die für einzelne Krankenkassen kritisch werden. Denn dass eine größere Kasse in die Knie geht und geschlossen werden muss, können wir nun wirklich nicht brauchen.

Und was bedeutet diese Entwicklung für die Beitragszahler?

Das Defizit für 2022 wird nach meinen Schätzungen bei etwas unter 20 Mrd. Euro liegen. Das würde bedeuten, dass die Beitragssätze um rund 1,3 Beitragssatzpunkte ansteigen müssten, wenn nicht der Bund in ganz erheblichem Umfang einspringen würde oder wir eine ganz drastische Kostendämpfung machen. Wobei das Ausmaß des Defizits natürlich von vielen Einflussgrößen abhängt. So kann jetzt ja niemand verlässlich sagen, wie stark die Wirtschaft noch wegen der Pandemie zurückgefahren werden muss.

Von den Sozialverbänden wird kritisiert, dass hauptsächlich die gesetzlichen Krankenkassen und ihre Beitragszahler für die Finanzierung der Pandemie zur Kasse gebeten werden. Wie gerecht sind denn die Kosten Ihrer Meinung nach verteilt?

Ich halte das für etwas übertrieben. An vielen Maßnahmen aufgrund der Pandemie sind die privaten Krankenversicherer beteiligt. Auch haben sie mit der Ärzteschaft einen Hygienezuschlag bei den Gebühren vereinbart. Ein nennenswerter Teil der Last wird ja auch durch den Bundeshaushalt getragen. Zudem tragen die privatversicherten Steuerzahler ja auch nennenswert bei.

Der PKV-Verband hingegen weist die Vorwürfe zurück, dass sich private Krankenversicherer zu wenig an der Finanzierung beteiligen. Von 1 Mrd. Euro war die Rede, die Privatversicherte zur Bewältigung der Corona-­Pandemie beitragen würden. Lässt sich das tatsächlich so einfach pauschal summieren?

Wie gesagt, ich denke nicht, dass sich die privaten Krankenversicherungen hier einen schlanken Fuß gemacht haben.

Der PKV-Verband betont in diesem Zusammenhang, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht zuletzt auch aufgrund seines Zusammenspiels von privaten und staatlichen Akteuren so gut aufgestellt ist, und verweist unter anderem auf das breite Netz an Facharzt­praxen, das Kliniken in der Corona-­Krise entlastet hat. Ist und war Deutschland gegenüber anderen Ländern hier im Vorteil?

In der ersten Welle der Pandemie war unser breites Versorgungsangebot tatsächlich eine Stütze. Dazu trägt auch die PKV bei. Allerdings sehen wir auch, dass die eigentliche Last der Pandemie eher in den großen Krankenhäusern, den Maximalversorgern, getragen wurde. Weswegen die Diskussion, ob wir über die richtigen Krankenhausstrukturen verfügen, sich dadurch nicht erledigt hat.

Unterm Strich wird die Krankenversicherung in diesem Jahr für viele Menschen teurer – egal ob gesetzlich versichert oder Privatpatient. Werden wir weitere Erhöhungen sehen?

Über die anstehenden Beitragserhöhungen bei den gesetzlichen Krankenkassen haben wir ja schon gesprochen. Bei den Privatversicherten wird das alles erst mit zeitlicher Verzögerung aufschlagen. Erst wenn die Unternehmen sehen, dass die Ausgaben stärker als kalkuliert gestiegen sind, dürfen sie ja die Beiträge anpassen. Dabei wird die Entwickung tarifspezifisch sehr unterschiedlich sein.

Laut Statistik sind in Deutschland immer mehr Menschen nicht krankenversichert.
Verstärken höhere Kosten diese Entwicklung und inwieweit gibt dies Anlass zur Sorge?

Schon Anfang des Jahrhunderts war ein starker Anstieg der Zahl der Nicht-Versicherten beobachtet worden. Darauf hat die Politik 2007 mit der Einführung der Pflicht für alle Einwohner, sich zu versichern, reagiert. Die Zahl der Nicht-Versicherten ist danach zunächst auch gesunken. Dass sie jetzt wieder steigt, gibt in der Tat Anlass zur Sorge. Ich war schon damals dafür, dass wir stärker staatlich kontrollieren, ob die Leute sich versichert haben.

Nun hat Corona auch die Digitalisierung vorangetrieben – gilt dies Ihrer Einschätzung nach auch für das Gesundheitswesen? Infolge der Pandemie zeigt sich ja ein Boom bei Videosprechstunden und telefonischen Beratungen.

Ja, auch im Gesundheitswesen hat Corona die Digitalisierung vorangetrieben. Die Pandemie hat aber auch brutal deutlich gemacht, wie groß da zum Teil der Handlungsbedarf war und auch teilweise immer noch ist.

Als Meilenstein hin zur digitalen Infrastruktur kann man die Einführung der elektronischen Patientenakte betrachten, die nun stufenweise umgesetzt wird. Bis zu diesem Punkt war es ein langer Weg, die Einführung der elektronischen Krankschreibung wurde dagegen auf 2022 verschoben. Wie sehen Sie Deutschland im europäischen Vergleich aufgestellt?

Schon 2003 hat die Politik beschlossen, eine elektronische Gesund­heits­karte einzuführen. Und dann haben wir das über 15 Jahre nicht auf die Reihe bekommen. Nicht nur wegen vielfältiger technischer Probleme, sondern auch weil die Verbände der Akteure im Gesundheitswesen, also Ärzte, Apotheker, Krankenkassen etc., sich gegenseitig lange blockiert haben. Dadurch sind wir im europäischen Vergleich ziemlich weit nach hinten gefallen.

Zur Person

Der Gesundheitsökonom Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem ist Professor für Medizin­management an der Universität Duisburg-Essen und angesehener Politikberater. Im Rahmen seiner Laufbahn gehörte Prof. Dr. Wasem diversen wissenschaftlichen Gremien an. So leitete er beispielsweise von 1994 bis 1996 die von der Bundesregierung eingesetzte „Unabhängige Expertenkommission zur Untersuchung der Problematik steigender Beiträge der privat Krankenversicherten im Alter“. Die Vorschläge sind weit­gehend bei der „GKV-Gesundheits­reform 2000“ berücksichtigt worden. 2001 bildete Prof. Dr. Wasem mit Karl W. Lauterbach, Bert Rürup und Gerd Glaeske eine Expertengruppe, die Eckpunkte für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens vorlegte. Seit 2020 ist der Gesundheitsökonom Vorsitzender der Schiedsstelle für die Vergütung digitaler Gesundheits-Apps in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 03/2021, Seite 38 f. und in unserem ePaper.

Anmerkung: Das Interview wurde im Februar 2021 geführt.

Bild oben: © blacksalmon – stock.adobe.com

 
Ein Interview mit
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem