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8. März 2022
„Dem Thema New Work kann sich niemand verschließen“
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„Dem Thema New Work kann sich niemand verschließen“

Das vom AGV gestartete Projekt „Women in Leadership & Culture“ soll mehr Frauen für Führungspositionen begeistern. Im Interview spricht Betina Kirsch, Geschäftsführerin des AGV, über das Vorankommen des Projekts, über Diversität, New Work und Unternehmenskultur.

Interview mit Betina Kirsch, Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin) und Geschäftsführerin des Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland (AGV)
Frau Kirsch, auf der AGV-Website steht: „Der AGV möchte die Versicherungsunternehmen auf ihrem Weg, mehr Frauen für Führungsaufgaben zu gewinnen, begleiten und unterstützen.“ Wie schätzen Sie die Entwicklung seit 2013, also seit Projektstart, ein? Welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?

Ich finde, dass sehr viel passiert ist – kulturell mehr als auf die blanken Zahlen geblickt. Als wir 2013 mit dem Projekt gestartet sind, waren unsere Initiative und auch viele unserer Ideen (u. a. unternehmensübergreifende Vernetzung erfolgreicher Frauen durch unsere AGV-Topmanagerinnenkonferenz) „exotisch“. Manch einer hat unser Projekt vielleicht auch belächelt und dabei geäußert, Frauen würden ja gar nicht in Führung wollen. Heute dagegen ist es ein unternehmerisches „Selbstverständnis“, mehr Frauen für Führung zu gewinnen. Zudem ist es nicht mehr „gesellschaftsfähig“, sich mit einem rein männlich besetzten Vorstand zufrieden zu geben.

Wie sieht es zurzeit bei den Vorständinnen aus? Gibt es denn jetzt mehr Vorständinnen als vor acht oder neun Jahren?

Ja, auf jeden Fall. Der AGV selbst erhebt leider keine Zahlen zum Frauenanteil in Vorständen der Versicherungsbranche. Wir arbeiten insoweit mit den Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das von 2012 bis 2021 eine Erhöhung des Frauenanteils in Vorständen von 5,7% auf 13,2% ausgewiesen hat. Diese Zahl betrifft die 60 größten Versicherungen.

Im Vertrieb geht es kaum voran bei diesem Thema. Wie sehen Sie das? Wie ist das zu ändern?

Der Frauenanteil im Vertrieb ist in der Tat niedrig. Laut unserer flexiblen Personalstatistik lag dieser für 2020 bei 23,6%. Für den niedrigen Frauenanteil werden gerne folgende Gründe zitiert, die ich hier nur als Schlagworte benenne: Vertriebsimage, Wettkampfkultur, Vereinbarkeit Job / Familie, provisionsbasierte Vergütung.

An vielen Stellen wird schon geschraubt. Was das Vertriebsimage angeht, hoffe ich, dass durch die Kampagne „werde insurancer“, in der viele interessante und coole Vertrieblerinnen zu Wort kommen, eine neue Wahrnehmung für den Vertrieb entsteht. Die Frauen, die ich aus dem Vertrieb kenne, haben großen Spaß an der Arbeit und sind überdurchschnittlich erfolgreich. Auch die zunehmende Digitalisierung im Vertrieb wird nach meiner Einschätzung den Job für Frauen interessanter machen, zumal die Beratung noch komplexer wird. Lange Fahrt- und Reisezeiten werden abnehmen, sodass es leichter wird, Job und Familie unter einen Hut zu bringen.

Wie sehen Sie die Situation unterhalb der Vorstandsebene?

Im Innendienst hat sich der Frauenanteil in der ersten Führungsebene von 10,2% im Jahre 2010 auf 17,5% im Jahre 2020 erhöht. Es tut sich was. Bei der Bewertung der Zahlen, darf man nicht vergessen, dass wir wenig Fluktuation in der Branche haben und der Trend zu flacheren Hierarchien/agileren Organisationen geht, was eine Abnahme von Führungspositionen nach sich zieht. Wenn Führungspositionen frei werden, besteht ein großes Interesse der Unternehmen, diese auch mit gut qualifizierten Frauen zu besetzen.

Es wird viel über Diversität im Arbeitsleben gesprochen. Was verstehen Sie persönlich darunter?

Diversität ist für mich in erster Linie ein Kulturthema – ich mache das nicht nur an den bekannten Diversity-Dimensionen fest. Wenn jeder als Person so sein darf, wie er ist, und als Mensch wertgeschätzt wird, kommt in der Regel der beste Output heraus. Dort, wo „genormte Führungskräfte“ erwartet werden, haben viele gute Köpfe kein Interesse, sich zu verstellen, um beruflich aufzusteigen. Es geht viel Innovation und Kreativität verloren.

Wie und wo wird das in der Finanz- und Versicherungsbranche Ihrer Erfahrung nach bisher wirklich gelebt? Welche Bedeutung kommt Diversität in der Versicherungswelt zu?

Diversität und ihre Bedeutung sind schon längst in der Branche angekommen. Das Thema wird ganz natürlich durch den Fachkräftemangel und die Erwartungshaltung der neu in den Arbeitsmarkt tretenden Generationen getriggert. Die jüngeren Generationen können sich aufgrund des aktuell vorherrschenden „Bewerbermarktes“ den Arbeitgeber aussuchen und das Thema Diversität ist ein „Coolness-Faktor“. Generell stelle ich fest, dass Versicherungsunternehmen als Arbeitgeber in den letzten Jahren immer „cooler“ geworden sind. Dies hängt unter anderem mit der Abflachung von Hierarchien, der Zunahme von mobilem Arbeiten (auch schon vor Corona), inspirierenden Bürokonzepten, einer Zunahme der Duz-Kultur sowie zunehmend agileren Arbeits­methoden zusammen.

Ein weiteres großes Thema, das neuen Aufschwung durch die Corona-Pandemie erlangt hat, ist „New Work“. Es beschreibt eine neue, moderne und oft kreative, freie Arbeitsweise inmitten von Globalisierung und Digitalisierung. Genannt werden in diesem Zusammenhang oft das mobile Arbeiten oder Work-­Life-Balance. Wie ist Ihre Einstellung allgemein dazu? Welche Herausforderungen sehen Sie?

Dem Thema New Work, das ja auch ein „Lebens­gefühl“ darstellt, kann sich niemand verschließen. In unserer Branche geht der Trend zu 40 bis 60% Mobilarbeitsquote im New Normal. 63% der Versicherungsunternehmen ermöglichen eine Mobilarbeitsquote von 50% und mehr, so unsere aktuellen Zahlen. Mitarbeiterbefragungen zeigen, dass diese Quoten den Präferenzen der Mitarbeitenden entsprechen. Für Führungskräfte sehe ich größere Herausforderungen, die Mitarbeitenden als Team zusammenzuhalten und die Identifikation mit dem Unternehmen nicht zu verlieren. Führen, was in der heutigen Zeit sehr viel mit wertschätzender Kommunikation zu tun hat, wird anspruchsvoller. Durch die globale Zunahme der Mobilarbeit können die Mitarbeitenden theoretisch für jeden Arbeitgeber arbeiten, selbst wenn er 700 km entfernt ist. Solange er noch irgendwo in Deutschland sitzt, gibt es auch keinerlei steuerrechtliche Komplikationen.

Sehen Sie New Work speziell für Frauen, die ja immer noch oft der Familie zuliebe weniger arbeiten, als Vorteil? Warum oder warum nicht?

New Work steht für eine Kultur der zeitlichen Flexibilität und des Outputs und räumt auf mit der alten „Präsenz-Kultur“, in der es auch darauf ankam, um 19 Uhr noch „schuftend“ am Arbeitsplatz gesehen zu werden. Frauen, die oft noch die Rolle des Familienmanagements übernehmen, waren zu diesen Zeiten nicht mehr im Büro. Dass sie womöglich schon um 6 Uhr zu arbeiten begonnen haben, war dann auch irrelevant. New Work ist grundsätzlich ein Benefit für Frauen wie Männer, die nun alle selbstbestimmter ihr Privatleben und den Job verbinden können. Bei Frauen sehe ich insoweit nur die Gefahr, dass sie sich womöglich für eine höhere Mobilarbeitsquote im Vergleich zu Männern entscheiden und damit im Ergebnis auch wieder ihre Sichtbarkeit leidet.

Schließen sich „Teilzeit“ und „Führungsposition“ Ihrer Meinung nach gegenseitig aus?

Nein. Machbar ist theoretisch alles – ob es sinnvoll ist, hängt sicher von der jeweiligen Stelle und den handelnden Personen ab. Die Erfahrung zeigt, dass Führen in Teilzeit auf der zweiten oder dritten Führungsebene schon des Öfteren in der Branche vorkommt. Viele Unternehmen beschäftigen sich aktuell mit dem Thema Job­sharing auf der ersten Führungsebene, was noch sehr selten ist. Hier sehe ich großes Potenzial für sogenannte Generationentandems, bei denen eine ältere Führungskraft, die der Arbeitgeber wegen der besonderen Expertise noch lange in Beschäftigung halten will, ihre Arbeitszeit beispielsweise durch Altersteilzeit verkürzt und sich die Stelle mit einer jüngeren Nachwuchsführungskraft teilt, die in der Rushhour des eigenen Lebens zeitweilig nicht Vollzeit arbeiten kann. Solche Tandems müssen sehr gut organisiert sein, die Führungskräfte brauchen ein ähnliches Führungsverständnis und müssen lernen loszulassen. Bei einem guten Matching haben solche Tandems sowohl für das Team als auch für den Arbeitgeber viele Vorteile, zum einen in Bezug auf die Führungs-Skills zum anderen hinsichtlich der Über­brückung von Fehlzeiten. Generell nehmen wir jedoch wahr, dass vonseiten der Führungskräfte solche Modelle (noch) nicht oft nach­gefragt werden – das ist aber sicher auch ein Kulturthema.

Wie lässt sich die Work-Life-Balance in der Ver­sicherungsbranche noch verbessern? Welche Möglichkeiten sehen Sie?

Bezogen auf die Mitarbeitenden fällt mir kein struktureller Optimierungsbedarf mehr ein. Angefangen bei der 38-Stunden-Woche und umfangreichen Teilzeitangeboten über Unterstützung bei der Kinderbetreuung und Pflege, flexible Arbeitszeit, eine Mobilarbeitsquote von 40 bis 60%, 30 Tage Urlaub, Gleitzeit sowie Langzeitkonten bis zu Sabbatical-Regelungen, die viele Häuser haben, stehen wir als Branche schon sehr gut da.

Hinsichtlich der Führungskräfte sehe ich Potenzial, das Thema Führen in Teilzeit und in Jobsharing tatsächlich in die Praxis zu bringen und nicht nur auf dem Papier stehen zu haben.

New Work hat auch etwas mit (Eigen-)Verantwortung, Initiative und Engagement für das Unternehmen zu tun. Hilft New Work den zukünftigen Maklern und Maklerinnen sowie Versicherungsunternehmen bzw. deren Geschäft?

Dem würde ich zustimmen. New Work schafft mehr Flexibilität für Mitarbeitende, aber auch für Kunden. Beratungen via Webtools sind nunmehr üblich und können sogar persönliche Nähe schaffen, selbst wenn man sich vorher noch nicht kannte. Individuelle Beratungsangebote können über den Bildschirm geteilt werden, sodass man sich auch nicht mehr zwingend vor Ort irgendwo treffen muss. Ich selbst kann für mich sagen, dass ich das als Kunde viel angenehmer empfinde, als irgendwo hinzulaufen oder nur zu telefonieren.

Über „Women in Leadership & Culture“

Der Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland e. V. (AGV) initiierte im Jahr 2013 die Bildung des Branchenbeirats „Frauen in Führung“. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt, mehr Frauen für Führungspositionen in der Assekuranz zu begeistern und ihren Anteil in diesen Positionen zu erhöhen. Denn Frauen auf Führungsebene sind in der Versicherungsbranche weiterhin unterrepräsentiert. Die Versicherungswirtschaft ist laut AGV die erste Branche in Deutschland, die sich gemeinschaftlich dafür einsetzt, den Anteil von Frauen in Führungspositionen im Interesse der Chancengleichheit, aber auch der Wettbewerbsfähigkeit der Branche anzuheben. Der AGV unterstützt die Versicherungsunternehmen im Rahmen ihrer Initiativen zur Verbesserung der Chancengleichheit von Männern und Frauen. Eine weitere Idee ist es, erfolgreiche Frauen unternehmensübergreifend zu vernetzen. Aktuell gibt es 29 Mitglieder. Im September 2021 entschied der Beirat, sich umzubenennen in „Women in Leadership & Culture“, da so die Bedeutung der Unter­nehmenskultur für die Ziele der Initiative hervorgehoben wird.

Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 02/2022, S. 82 ff., und in unserem ePaper.

Bild: © Prostock-studio – stock.adobe.com

 
Ein Interview mit
Betina Kirsch