AssCompact suche
Home
Vertrieb
23. Mai 2016
„In den letzten Jahren sind Quantität und Qualität der Anforderungen an den Vertrieb sehr viel höher“

„In den letzten Jahren sind Quantität und Qualität der Anforderungen an den Vertrieb sehr viel höher“

Der Vertrieb ist einer der großen Schlüsselfaktoren, die über Erfolg oder Misserfolg einer Versicherungsgesellschaft entscheiden. So war es zumindest bisher. Ein verändertes Umfeld verändert auch die Vertriebsabteilungen und vor allem auch die Anforderungen an die Vertriebsvorstände. Nachgefragt bei Prof. Dr. Hans-Wilhelm Zeidler, Berater und Ex-Vertriebsvorstand der Zurich Deutschland.

Herr Professor Zeidler, nach Ihrer Tätigkeit bei der Zurich begleiten Sie weiterhin die Versicherungsbranche, vor allem die Vertriebs-Geschehnisse. Drei Jahre sind eigentlich keine lange Zeit, aber würden Sie sagen, dass die jetzige Veränderung von Vertrieb besonders schnell vonstatten geht?

Ja, da stimme ich Ihnen zu. In meinen 34 Jahren Vorstandstätigkeit in der Versicherungsbranche gab es zu jeder Zeit Anspannungen, Änderungs- und Anpassungsbedarfe und harte Herausforderungen für den Vertrieb, kurz Stress. Allerdings verdichtet sich meine Erkenntnis, dass in den letzten Jahren die Quantität und Qualität der Anforderungen an den Vertrieb sehr viel höher sind als in den Jahrzehnten zuvor. Die Anforderungen speisen sich aus vielen unterschiedlichen Quellen zur gleichen Zeit und haben oft ultimativen Charakter, damit meine ich, es MUSS gemacht werden, wenn nicht Sanktionen oder negative Auswirkungen auf das Unternehmen folgen sollen. Dazu kommen die Fristvorgaben, die oft kurzfristig sind. Und das vor dem Hintergrund, dass die anderen Funktionen des Unternehmens ebenfalls mit einer Vielzahl von Aufgabenbewältigungen gefordert sind, was zusätzlich noch zum hausinternen Kampf um Budgets und Ressourcen führt.

Regulierung, digitale Prozesse, Compliance – wer bestimmt heute, was im Vertrieb passiert?

Da nennen Sie bereits einige der Anforderungsquellen – es sind bei weitem nicht alle, aber nehmen wir diese Beispiele. Diese beziehen sich zum einen auf die Technik, die IT, und zum anderen auf die rechtliche Sphäre. Meines Erachtens ist es Fakt, dass die Abhängigkeit des Vertriebes von den Vorgaben dieser beiden Bereiche um ein Vielfaches größer geworden ist und das mit zunehmender Wucht. Damit wird die Entscheidungsfreiheit des Vertriebes eingeschränkt.

Bei technischen Fragen handelt es sich eher um ein Ressourcen- und/oder Priorisierungsproblem, seltener um grundsätzliche Fragen. Bei den juristischen Fragen ist das diffiziler. Hier wird zunehmend ein Mitspracherecht und Mitentscheidungsrecht eingefordert. Das führt dazu, dass der Vertrieb im Vorfeld von Entscheidungen permanent höhere Hürden zu überspringen hat, was naturgemäß zu erheblichen Verzögerungen in der Entscheidungsfindung führt.

Es kommt ja noch hinzu, dass in der Regel – ich begebe mich jetzt an die Grenzen der political correctness – mit Vertrieblern und Juristen zwei Menschentypen aufeinandertreffen, die unter Umständen unterschiedliche Handlungsmuster bevorzugen. Einmal der offensive, von einem positiven Ergebnis seiner Handlungen Überzeugter und dann ein defensiver in Kategorien der Abwehr des Bösen Denkender. Die Abwehr durch ein NEIN führt immer auf die Straße der Glückseligen: entweder kann nicht bewiesen werden, dass ein JA das Unternehmen vorangebracht oder das NEIN Schaden abgewendet hätte oder das NEIN war richtig, für das JA bleibt da wenig Platz. Aber Risiko ist und bleibt die Bugwelle des Erfolges. Selbst wenn der Vertrieb die juristische Wertung überstimmen könnte, so bleibt ein doppeltes Risiko zurück.

Was das heißt? Wenn die Überstimmung zum Erfolg führt, dann ist alles in Ordnung. Wenn nicht, so ist das nicht nur eine erfolgsfreie Entscheidung gewesen, sondern sie ist sogar gegen die Vorgaben der Juristen erfolgt, was zu einer Doppelung der Rechtfertigung führt. Es kann auch eine Überlegung sein, Entscheidungen zu atomisieren, um der Verantwortung nur auf geringstem Niveau zu begegnen, eine Tendenz, die ich erlebe und von dem Unternehmertun der Verantwortlichen fortführt.

Auch wenn Sie mich das nicht gefragt haben, diese Situation zeigt bereits eine Entscheidungsunfreude im Top- und Mittelmanagement des Vertriebs. Vielleicht so etwas wie eine Lustlosigkeit. Das halte ich für sehr gefährlich für die Entwicklung der betroffenen Unternehmen, sie scheinen vergessen zu haben, was sie zu der Größe und zu den Erträgen geführt hat, mit denen sie leben, den Vertrieb.

Was bedeutet das für die Vertriebsvorstände?

Wenn wir die Antwort von gerade ins Extrem fortführen, dann gibt es zwei Antworten. Einmal gibt es den offiziellen Entscheider, den Vertriebsvorstand, und es gibt die Entscheidungskompetenz an anderen Stellen. Die Frage ist, wie sind die Anteile verteilt? Da scheint mir eine Abnahme der Entscheidungskompetenz bei den Vertriebsvorständen erkennbar zu sein. Zum anderen den tatsächlichen Übergang der Vertriebsverantwortung in Ressorts, die nicht Vertrieb heißen. Vielleicht könnte die Technik im Sinne der vehementen Digitalisierung oder Recht im Sinne der Regulierung, Compliance, erweitert um Controlling, Audit und Revision diese Funktion übernehmen. Das sehe ich allerdings im Moment noch nicht. Aber man darf das ja auch einmal denken.

Dabei müssen Vertriebsvorstände oft nicht nur einem Vertriebsweg gerecht werden. Auch das macht Entscheidungen über Investitionen schwierig. Sehen Sie hier Tendenzen?

Bei den Versicherern, die eine Multichannel-Politik im Vertrieb fahren, ist es in der Tat eine Frage der Investitionspriorisierung. Hierbei haben die Versicherer unterschiedliche Strategien und nach denen steuern sie ihre Investitionen. Dabei sind die hauptsächlichen Empfänger die Vertriebswege: Makler/Mehrfachagent, Ausschließlichkeit, Bank und direkt. Ihre Verteilung im Vertriebswegemix ist seit Jahren durch sehr gute Untersuchungen bekannt. Aber insgesamt ist- wie wir alle wissen – die Anzahl der Akquisiteure signifikant rückläufig. Als Versicherer sich einem Vertriebsweg besonders hinzuwenden ist – wie ich ja bereits sagte – eine Frage der Strategie, so ist zum Beispiel ein Vorteil der Ausschließlichkeit gerade ihre Ausschließlichkeit. Ein Vorteil der unabhängigen Vermittler ist beispielsweise ihr Zwang auf das Unternehmen, marktgerecht zu sein. Aber das ist traditionell.

Wir haben es mit den InsureTechs und den FinTechs mit einer großen Welle der Veränderung zu tun. Bei aller Kritik, berechtigt und unberechtigt, wir werden zunehmend mit ihnen leben müssen und sind als Branche so schlecht auf deren Anforderungen vorbereitet. Von dort stammt auch die innere Ablehnungshaltung der Versicherer. Aber ich habe in vielen Veranstaltungen kennenlernen dürfen, dass die Versicherungsbranche das Szenario verstanden hat und mitspielen will. So glaube ich, dass in dieses neue Vertriebsverfahren erhebliche Investitionen gehen werden, von den Labs bis zu den IT-Investitionen, um auch wirklich mitspielen zu können. Vergessen wir nicht, dass Versicherer Erträge zur Stärkung ihrer Eigenkapitalbasis benötigen und auch deshalb sehr geneigt sein dürften, die Vertriebswege zu fördern, die wenig Kosten verursachen.

 

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews mehr über die Zusammenarbeit mit Versicherungsmaklern und die Nachwuchsprobleme der Branche.