Ein Interview mit Martin Gräfer, Mitglied der Vorstände der Versicherungsgruppe die Bayerische
Herr Gräfer, die Corona-Pandemie und die wirtschaftliche Unsicherheit drücken vielen Deutschen weiter auf die Seele. Eine Psychotherapie kann den Menschen helfen. Für eine BU-Absicherung ergibt sich daraus ein Problem. Verschlimmert eine pauschale Verweigerung nicht das Stigma, das psychischen Erkrankungen sowieso anhaftet?
Natürlich tut es das, und an dieser Fehlentwicklung wollen wir etwas ändern! Aber betrachten wir doch einmal die Zahlen: Jedes Jahr sind 28 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Den allermeisten davon kann die psychotherapeutische Behandlung sehr helfen, und das führt auch dazu, dass eine Vorgeschichte in der psychotherapeutischen Behandlung mehr Resilienz, mehr psychische Stabilität und mentale Gesundheit bedeutet. Allein aus diesem Grund und auch, weil die Gründe für die Inanspruchnahme von psychotherapeutischer Unterstützung so unterschiedlich und individuell sind, kann die pauschale Ablehnung dieser Menschen nicht richtig sein.
Warum tun sich Versicherer im Allgemeinen damit so schwer? Und wie oft wird die Bayerische bei Anfragen mit dem Thema konfrontiert?
Versicherer lieben möglichst exakte Risikoprofile. Biometrische Risiken, und dazu zählt die psychotherapeutische Vergangenheit ebenso wie ein Bandscheibenvorfall, sind besonders schwer zu berechnen. Wenn bei der Voranfrage zur BU-Versicherung beim Bandscheibenvorfall der Orthopäde um eine Expertise gebeten wird, kann mit psychotherapeutischer Expertise ebenso die „Rückfallwahrscheinlichkeit“ für psychische Erkrankungen eingeschätzt werden. Dazu muss man sich, und das klingt zunächst aufwändig, mit individuellen Fällen befassen und kann nicht nach einer Bewertungsmatrix vorgehen. Seit wir dies tun, stellen wir fest, dass viele Personen versicherbar sind – wenn auch manches mal unter erschwerten Bedingungen. Das allein ist schon ein Erfolg für uns und ein Beleg, dass dieser Vorstoß der richtige Weg war. Welchen Anteil diese Art der Anfragen an der Gesamtzahl haben, lässt sich aktuell noch nicht gesichert sagen. Wir können aber sehen, dass knapp 40% der Anfragen mit psychotherapeutischer Vergangenheit eine Versicherung ohne Einschränkungen angeboten werden konnte.
Also keine pauschale Ablehnung mehr. Wie sieht denn der neue Ansatz Ihres Hauses genau aus?
Unsere Risikoprüfer wurden durch eine Psychologische Psychotherapeutin geschult und besonders sensibilisiert. Im Zweifelsfall hilft die Therapeutin bei der Entscheidungsfindung. Nach wie vor gibt es aber auch Fälle, die wir aufgrund des individuellen Risikos ganz klar ablehnen müssen.
Müssen Kunden deshalb länger auf eine Antwort warten?
Aktuell stellen wir keine Verzögerungen fest.
Und gibt es trotzdem Einschränkungen?
Wer regulär in unsere BU aufgenommen wurde, hat keine Einschränkungen. Es gibt aber Fälle, in denen wir einem komplexeren Risikoprofil mit eingeschränkten Versicherungsleistungen begegnen, ohne jedoch die Aufnahme pauschal zu verweigern.
Wie kommt das Vorgehen bei Versicherungsmaklern an? Und worauf sollten Vertriebspartner besonders im diesem Zusammenhang achten?
Als wir unsere Initiative angekündigt hatten, gab es einige kritische Stimmen und Skeptiker. Die Erfahrungen der ersten Monate mit dem angepassten Vorgehen haben aber die letzten Kritiker überzeugt. Wichtig ist es für unsere Vertriebspartner, ehrlich und transparent mit den Interessenten zu kommunizieren. Unsere Initiative ist keinesfalls ein Freifahrtschein in die BU. Wir prüfen nur individueller als davor und kommen dadurch zu besseren Ergebnissen.
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Bilder: © die Bayerische, © Berit Kessler – stock.adobe.com

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