AssCompact suche
Home
Steuern & Recht
4. Juni 2025
Unfall nach Spurwechsel: Gericht entscheidet auf hälftige Haftung
Auffahrunfall nach Spurwechsel: Gericht entscheidet auf hälftige Haftung

Unfall nach Spurwechsel: Gericht entscheidet auf hälftige Haftung

Auffahrunfall ist nicht gleich Auffahrunfall: Wer trägt die Schuld, wenn beim Spurwechsel auf der Autobahn ein Unfall passiert? Nicht immer ist der Auffahrende allein schuld, so ein aktuelles Urteil. Der sogenannte Anscheinsbeweis kann aufgrund des Fahrverhaltens kippen.

Ein Spurwechsel auf der Autobahn – und plötzlich kracht es. Wer dann haftet, ist nicht immer so klar, wie man meinen könnte. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat nun mit Urteil vom 29.04.2025 entschieden: In einem besonderen Fall eines abgebrochenen Spurwechsels trifft den Auffahrenden nicht automatisch die Hauptschuld. Vielmehr haften beide Beteiligten zu gleichen Teilen – 50 zu 50.

Der Fall: Spurwechsel, Abbruch, Stillstand – und der Crash

Im Sommer 2021 war ein Ford Ranger auf der linken Spur der A45 unterwegs. Wegen einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn auf zwei Spuren. Der Fahrer begann, auf die mittlere Spur zu wechseln, kehrte dann jedoch – wie auch ein vorausfahrendes Fahrzeug – wieder auf die linke Spur zurück. Dort bremste das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich bis zum Stillstand. Auch der Ford-Fahrer bremste, doch im selben Moment kollidierte ein hinter ihm fahrendes Wohnmobil mit seinem Wagen und schob ihn auf das vorausfahrende Fahrzeug. Der Schaden am vollkaskoversicherten Ford beläuft sich auf knapp 60.000 Euro.

Es kam zur Klage: Der Versicherer des Ford-Fahrers forderte vom Wohnmobil-Fahrer Schadenersatz. Dieser sei mit unangepasst hoher Geschwindigkeit und zu geringem Abstand gefahren, weshalb er aufgefahren sei. Das Landgericht sah die Hauptschuld zunächst beim Auffahrenden (80%), doch das OLG Frankfurt korrigierte dieses Urteil: Beide Parteien seien gleichermaßen verantwortlich.

Anscheinsbeweis – was ist das eigentlich?

Bei Auffahrunfällen greift normalerweise der sogenannte Anscheinsbeweis: Wer auffährt, ist in der Regel schuld, weil unterstellt wird, dass er entweder zu schnell, unaufmerksam oder mit zu geringem Abstand gefahren ist. Es handelt sich also um eine Beweisvermutung, die typischen Verkehrsverstößen entspricht. Doch dieser Anscheinsbeweis kann erschüttert werden – etwa, wenn sich der Unfallhergang nicht in der üblichen Weise abgespielt hat.

Warum der Anscheinsbeweis hier nicht greift

Laut dem OLG lag hier eine „unklare Verkehrslage“ vor. Der Fahrer des Ford habe den begonnenen Spurwechsel abrupt abgebrochen, sei wieder auf die linke Spur zurückgefahren und dort ohne erkennbare Ankündigung bis zum Stillstand gebremst – alles im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfall. Das sei ein atypischer Ablauf, der den Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden entkräfte.

Zudem habe der Ford-Fahrer den rückwärtigen Verkehr offenbar nicht ausreichend beachtet, was auch durch seine eigene Aussage gestützt werde: Er habe das hintere Fahrzeug nicht gesehen. Weder sei geblinkt worden, noch habe es eine andere erkennbare Kommunikation des Fahrmanövers gegeben.

Warum trotzdem keine Alleinschuld beim Vordermann?

Gleichzeitig ließ das Gericht den auffahrenden Fahrer nicht völlig aus der Verantwortung. Wegen der unübersichtlichen Verkehrssituation – die Fahrspur endete und es herrschte dichter Verkehr – müsse jeder Verkehrsteilnehmer jederzeit mit plötzlichen Bremsmanövern oder Spurwechseln rechnen. Auch dies rechtfertige eine Mithaftung von 50%.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es besteht die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof.

OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 29.4.2025 – Az. 9 U 5/24