Ein Artikel von Andreas Wollermann, Berater und Trainer für Versicherer und Finanzdienstleister unter der Wortmarke GENsurance®
Es war einmal eine Zeit, nennen wir sie die „Boomer-Ära“, in der auf einen guten Arbeitsplatz sehr viele Bewerber kamen. In der sich auf dem Schreibtisch des Personalers Bewerbungen in hohe Türme stapelten. In der man sich durch gute Noten, saubere Lebensläufe und seriöse Zertifikate Zugang verschaffen konnte, oder eben nicht. Damals herrschte ein klares Machtverhältnis: „Der Arbeitgeber war oben, die Bewerber unten.“ Dieser Umstand hat unsere Gesellschaft nachhaltig geprägt. Er hat Glaubenssätze erschaffen, die bis heute in vielen Personalabteilungen, Führungsbüros und auch in der Versicherungswirtschaft hartnäckig überlebt haben.
Einer dieser Sätze lautet: Nur wer ein gutes Zeugnis vorweisen kann, ist auch ein guter Mitarbeiter. Ein anderer: Nur mit Studium und Zertifikat wird aus dir etwas. Oder auch: Das war schon immer so – warum sollten wir es ändern? Aber genau hier liegt das Problem. Denn die Welt hat sich verändert. Und mit ihr die Menschen.
Wissen ist nicht mehr Mangelware
Früher war der Zugang zu Informationen und Wissen knapp dosiert und begrenzt. Man musste es sich holen. In der Schule, in der Ausbildung, aus der Zeitung, aus dem Fernseher, aus der Bibliothek. Wer keinen Zugang hatte, hatte das Nachsehen. Wissen war ein knappes Gut, das Wohlstand versprach. „Wissen war Macht!“ Heute leben wir in einer Welt, in der Wissen grenzenlos verfügbar ist. In Echtzeit, im Feed, in 15-Sekunden-Clips oder Podcasts beim Zähneputzen.
Junge Menschen wachsen in einer Welt auf, in der sie ständig alles wissen könnten, wenn sie es wollen würden. Mit dem Kaffee „to go“ in der einen Hand und „Wissen to go“ in der anderen. Per Klick! Das verändert Sozialisierung. Es verändert Haltung. Es verändert Erwartungen. Doch was passiert in der Versicherungswirtschaft?
Wir klammern uns an Bewerbungsformulare von gestern, bestehen auf pdf-Lebensläufe, sortieren nach Abischnitt, melden uns 14 Tage nach Eingang der Bewerbung und wundern uns, warum niemand kommt.
Generation Überfluss: Warum der Zwang wegfällt
Es geht aber noch tiefer. Der demografische Wandel zeigt uns unmissverständlich: Es gibt nicht mehr zu viele Bewerber für zu wenig gute Jobs, es ist genau andersherum. Wer heute jung ist, hat die Auswahl. Denn die Realität der Gen Z (und bald auch der Gen Alpha) ist eine völlig andere. Sie ist in einer Welt aufgewachsen, in der es alles gibt. In der Eltern alles ermöglicht haben, was sie selbst nie hatten. In der Mangel kein täglicher Begleiter mehr ist. In der „Du musst“ durch „Wenn du kannst“ bzw. „Wenn du willst“ ersetzt wurde.
Und genau das ist der Punkt: Müssen folgt dem Wollen. Und nicht mehr andersherum. Wer also erwartet, dass junge Menschen sich aus einem inneren Pflichtgefühl heraus auf eine Ausbildung oder ein Vorstellungsgespräch bei einem Versicherer einlassen, der hat das Spiel bereits verloren, bevor es begonnen hat.
Wir haben ein Attraktivitätsproblem
Was viele in der Branche als „Fachkräftemangel“ bezeichnen, ist in Wirklichkeit ein massives Wahrnehmungsproblem. Die Versicherungswirtschaft ist nicht nur unattraktiv, sie ist unsichtbar oder unverständlich für viele junge Menschen. Denn: Wer nie erklärt bekommt, warum es cool ist, Menschen durch schwere Zeiten zu begleiten, wer keine Idee davon hat, dass man mit Versicherungen Sinn stiften kann, wer keinen TikTok-Content, kein Insta-Reel, kein YouTube-Video oder kein Corporate-Influencer-Marketing findet, das dieses Bild vermittelt, der wird nie auf die Idee kommen, sich ausgerechnet bei einem Versicherer zu bewerben. Und genau hier liegt unser Hebel.
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