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5. Juli 2022
BU: Wann ist eine neu ausgeübte Tätigkeit eine Vergleichstätigkeit?

BU: Wann ist eine neu ausgeübte Tätigkeit eine Vergleichstätigkeit?

In der BU kann der Versicherer auf eine neu ausgeübte Tätigkeit verweisen und Leistungen einstellen. Das OLG Nürnberg hatte nun zu klären, unter welchen Bedingungen eine neu ausgeübte Tätigkeit als sogenannte Vergleichstätigkeit gilt. Den Ausgang des Urteils erläutert Rechtsanwältin Kathrin Pagel.

Ein Artikel von Rechtsanwältin Kathrin Pagel, Fachanwältin für Versicherungsrecht und Partnerin in der Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte PartG

Ein aktuelles Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg (OLG) vom 01.02.2022 (Az. 8 U 2196/21) hat sich in einem konkreten Fall mit der Frage nach der Verweisbarkeit intensiv beschäftigt. Der Versicherte wurde in seinem erlernten Beruf als Konstruktionsmechaniker berufsunfähig, woraufhin seine beiden Berufsunfähigkeitsversicherer (BU-Versicherer) zunächst Leistungen erbracht hatten. Mit einem qualifizierten Hochschulabschluss, einer abgebrochenen Ausbildung zum Land- und Baumaschinenmechaniker und weiteren zwei Schuljahren an einer Wirtschaftsschule hatte der Versicherte die Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker mit der Gesellenprüfung abgeschlossen. Mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37 Stunden im Schichtbetrieb hatte er zuletzt ein Monatsgehalt von brutto 2.000 Euro.

Verweis auf neu ausgeübte Tätigkeit

Die BU-Versicherer wollten den Versicherten sodann auf eine später aufgenommene Tätigkeit als „Fahrer und Messgehilfe“ verweisen. Der Versicherte hatte eine neue Tätigkeit als Angestellter im öffentlichen Dienst mit einer anteiligen Arbeitszeit mit 90% eines Vollzeitbeschäftigten in durchschnittlicher Arbeitszeit von sieben Stunden täglich in Teilzeit aufgenommen. Sein monatliches Bruttoeinkommen betrug nunmehr 2.200 Euro. Die neue Tätigkeit hatten die Versicherer als Anlass genommen, den Versicherten darauf zu verweisen und die BU-Leistungen einzustellen. Damit war er aber nicht einverstanden. Nach den gängigen Bedingungswerken und in der Rechtsprechung ist eine konkrete Verweisung bei Wahrung der bisherigen Lebensstellung möglich. Für deren Rechtmäßigkeit hatte das OLG nun folgende Aspekte zu prüfen:

Höheres Einkommen als Argument?

Der Versicherte hatte nach Aufnahme der neuen Tätigkeit ein um 200 Euro höheres Einkommen als in der Ursprungstätigkeit. Das OLG hat in seiner Entscheidung hervorgehoben, dass erkennbarer Sinn und Zweck einer BU ist, einen individuellen und sozialen Abstieg des Versicherungsnehmers im Berufs­leben und in der Gesellschaft zu verhindern. Für diesen Sinn und Zweck ist nicht die Differenz der Einkommen vorher/nachher von Bedeutung, sondern vielmehr die Gleichwertigkeit der Lebensstellung des Versicherungsnehmers.

Bisherige Lebensstellung

Prägend für die bisherige Lebensstellung ist die bisherige berufliche Tätigkeit. Fähigkeiten und Erfahrungen werden berücksichtigt. Eine Vergleichstätigkeit setzt voraus, dass die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt – so das OLG unter Verweisung auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 07.12.2016, Az. IV ZR 434/15, VersR 2017,147. Die Frage, was inwieweit mit einer besonderen sozialen Wertschätzung verbunden ist, ist in der Praxis eine Wertungsfrage. Dabei kann eine Vielzahl von Faktoren einfließen.

Abgeschlossene Berufsausbildung als bedeutender Faktor

Eine abgeschlossene Berufsausbildung sieht das OLG als bedeutenden Faktor an. Durch eine Ausbildung erfolgt in der Regel eine erhebliche Steigerung des sozialen Ansehens. Der Versicherte musste es als Konstruktionsmechaniker nicht hinnehmen, dass diese berufliche Qualifikation durch die neue Tätigkeit deutlich unterschritten wird. Auch bei einem höheren Einkommen wäre eine Tätigkeit „unterwertig“, wenn dadurch die frühere Qualifikation und der berufliche oder soziale Status unterschritten wird. Dies ist bei der Tätigkeit als „Messgehilfe und Fahrer“ der Fall, denn dabei handelt es sich um keinen Ausbildungsberuf. Der Versicherte wurde in nur vier Wochen angelernt und hat dabei die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Ausübung des Berufs erhalten.

„Ortsfest“ contra „in ständig wechselnden Einsatzgebieten“

Ebenfalls als nicht vergleichbar sah das OLG die Tatsache an, dass der Versicherte im Ursprungsberuf ortsfest am Wohnort beschäftigt war und der Einsatzort für die nun neue Tätigkeit in ständig wechselnden Gebieten in Bayern war. Als wesentlichen Unterschied in der Lebensstellung sieht das OLG, dass der stationär an seinem Wohnort Tätige in seinen Arbeitspausen auch zwischendurch private Angelegenheiten am Ort erledigen könne, der in ganz Bayern Umherfahrende indessen nicht.

Keine Kompensation

Auch eine Anstellung im öffentlichen Dienst des Freistaates Bayern könne dies nicht kompensieren, so das OLG. „Eine derart überhöhte abstrakte ‚Strahlkraft‘ des Freistaates Bayern als Arbeitgeber in einem Angestelltenverhältnis ist an harten Fakten nicht festzumachen … – der Umstand, dass öffentliche Arbeit­geber (Bund, Land, Kommunen, Gebietskörperschaften) auf dem Bewerbermarkt bei qualifizierten ‚Facharbeitern‘ bekanntermaßen keinen ‚Heimvorteil‘ besitzen und ihre Konkurrenzfähigkeit werbend her­ausstellen müssen, um den Personal­bedarf überhaupt annähernd dec­ken zu können, belegt eher das Gegenteil.“ (OLG Nürnberg)

Neue Definition „Lebensstellung“

In einem der beiden Verträge des Versicherten war zudem der Begriff „Lebensstellung“ ausnahmsweise ausdrücklich mit einer neuen Formulierung definiert: „Die Lebensstellung ergibt sich aus dem beruflichen Einkommen und der sozialen Wertschätzung des Berufs, wobei die andere Tätigkeit nicht der bisherigen Lebensstellung entspricht, wenn sowohl das Einkommen als auch die Wertschätzung der anderen Tätigkeit spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufes absinkt.“ (Auszug § 7 Abs. 1 AVB)

Diese Klausel ist etwas missverständlich formuliert. Hinsichtlich der möglichen Interpretationsspielräume stellt das OLG nun klar, dass auch hier die bisherige Lebensstellung die Untergrenze für die Anforderungen an einen zumutbaren Vergleichsberuf definiert. Nur so kann die Klausel aus Sicht eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstanden werden. Die Formulierung bedeutet demnach nicht, dass eine Verweisung nur dann möglich wäre, wenn entweder nur das Einkommen oder nur die soziale Wertschätzung sinkt.

Schlussfolgerung

Ob der Versicherungsnehmer im Einzelfall auf eine ausgeübte neue Tätigkeit verwiesen werden kann, richtet sich danach, ob und inwieweit seine durch den zuvor ausgeübten Beruf geprägte Lebensstellung noch gegeben oder unterschritten ist. Diese Verweisung bedarf einer Einzelfallprüfung und Abwägung.

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 06/2022, S. 124 f., und in unserem ePaper.

Bild: © Wirestock Creators – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Kathrin Pagel