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11. März 2020
DIN Norm 77230: „Kein Big Bang, aber eine Evolution der Prozesse“

DIN Norm 77230: „Kein Big Bang, aber eine Evolution der Prozesse“

Die DIN-Norm 77230 „Basis-Finanzanalyse für Privathaushalte“ ist im Februar 2019 veröffentlicht worden. Wie hilfreich sie im Vermittleralltag ist, was Berater davon abhält, die Norm zu nutzen und welche weiteren Normen in Planung sind, hat AssCompact nachgefragt bei Dr. Wolfgang Kuckertz, Vorstand der GOING PUBLIC! Akademie für Finanzberatung AG.

Herr Dr. Kuckertz, wie schätzen Sie die aktuelle Nutzung der DIN 77230 in der Praxis ein? Nach der Einführung wurde es stiller um die DIN-Norm.

Die empfundene Stille ist relativ normal. Die Norm ist nun auf der Spur. Es war nicht damit zu rechnen, dass die Norm wie ein Big Bang die Finanzindustrie revolutioniert. Es kommt nun zu einer Evolution der bestehenden Prozesse – nach und nach hin zur Norm. Viele Marktakteure haben erkannt, dass die Norm sehr Vieles erleichtert und Analyseansätze plausibel macht. Software zur Umsetzung der Norm gibt es inzwischen ein halbes Dutzend und Vermittler freunden sich zunehmend mit der Norm an. Das merkt man auch daran, dass zwei weitere Normvorhaben auf der Spur sind: Eine Norm für die Analyse von Gewerbekunden und eine Norm für die Baufinanzierung.

Was hält Berater davon ab, die Norm zu nutzen? Liegt es an der Praxistauglichkeit, der Software-Integration, an Nachlässigkeit oder anderen Punkten?

Viele Berater nutzen die Norm, weil sie praxistauglich, in Software integriert ist und sowohl die Kundenorientierung als auch die Cross-selling-Quote erhöht. Berater, die die Norm nicht nutzen, werden sehr oft die Umstellung von einem bereits existierenden System scheuen. Das kennen wir aus vielen Lebensbereichen: Wir wissen, wie ein bestimmter Vorgang besser geht und machen diese Dinge trotzdem so, wie wir sie schon immer gemacht haben. Das ist zwar nicht professionell, aber menschlich.

Einige Vermittler trauen ihren Kunden auch den Umfang der Analyse nicht zu. Tatsächlich benötigt man ein gutes Vertrauensverhältnis zum Kunden, um die Analyse vollständig durchzuführen und alle Fragen beantwortet zu bekommen. Gleichzeitig entsteht so eine Beziehung, in die Wettbewerber nicht mehr ganz einfach eindringen können. Außerdem führen nur ausreichende Informationen und eine ausreichende Analyse zu wirklich passenden Angeboten.

Es gab ja mal die Vermutung, dass derjenige ein Haftungsproblem bekommt, der nicht nach DIN 77230 berät bzw. die Finanzanalyse nicht entsprechend durchführt ...

Das ist etwas verkürzt. Wann kann in der Versicherungsvermittlung ein Haftungsproblem entstehen? Hauptsächlich, wenn der Kunde einen Schaden hat und dieser nicht gedeckt ist. Der Berater wird dann darlegen müssen, warum der Schaden nicht bezahlt wird. Er muss also plausibel erklären, dass das Risiko und die Absicherungsmöglichkeit angesprochen wurden und warum der Kunde sich gegen den Schutz entschieden hat. Die Anwendung der DIN-Norm hilft erheblich, nichts zu vergessen und die Prioritäten plausibel zu sortieren. Ohne die DIN-Norm kann man Gleiches erreichen. Die zu erhebende Datenmenge muss dann letztlich das gleiche Volumen wie bei einer DIN-Analyse haben und die Begründungen für oder gegen ein Finanzthema werden schwieriger und vielleicht umfangreicher. Ob dann später ein Richter dieser selbst hergeleiteten Begründung und Dokumentation folgt, steht in den Sternen. Hier erkennt man, dass die Norm das Leben eben letztlich leichter und sicherer macht.

Haftungsansprüche aufgrund der eigentlichen Beratung und der konkreten Produktwahl werden durch die DIN-Analyse natürlich nicht berührt.

Mittlerweile wird an weiteren DIN-Normen gearbeitet, wie Sie ja schon erwähnt haben. Wie ist hier der Stand? Und wird die Umsetzung diesmal leichter?

Ganzheitliche Beratungen sind immer komplex und Vermittler sollten froh sein, dass diese komplex sind – sonst wären Vermittler schon längst vollständig durch automatisierte Prozesse verdrängt worden. Insofern kann eine Standardisierung nur so einfach sein, wie das Leben selbst einfach ist. Das gilt grundsätzlich auch für die anstehenden Normen. Da ist zum einen die DIN-Norm für die Finanz- und Risikoanalyse von Gewerbetreibenden und Selbstständigen. Ein Themenfeld, bei dem die Norm sicher eine große Hilfestellung geben wird. Wir gehen im Moment davon aus, dass die Norm Anfang 2021 im Entwurf veröffentlicht wird und dann im Sommer die Verabschiedung folgt. Außerdem gibt es eine DIN Spec zur privaten Baufinanzierung. Hierbei geht es um ein einzelnes Finanzthema mit der Zielgruppe der Privatkunden. Es ist zu erwarten, dass diese Norm durch die abgegrenzte Anwendung einfacher wird. Auch mit dieser Norm können wir voraussichtlich Anfang 2021 rechnen.

Demnächst sollen Nachhaltigkeitskriterien in die Beratung einfließen müssen. Wie wirken sich solche Vorgaben und Instrumente insgesamt genommen auf die Vermittler aus?

In der DIN-Analyse wird sich das nicht auswirken, weil sich die Merkmale der Nachhaltigkeit auf konkrete Kriterien von Produkten beziehen. Damit geht es um die Beratung, die auf die Analyse aufbaut. Der Vermittler wird zu allen Finanz- und auch Versicherungsprodukten Kunden befragen müssen, ob und inwieweit diese „nachhaltig“ sein sollen. Das klingt zunächst nur nach einer einfachen zusätzlichen Frage im Beratungsprozess. Tatsächlich fängt das Problem bei einem „Ja“ des Kunden an. Der Begriff „nachhaltig“ ist ein Sammelbegriff und wird sehr unterschiedlich interpretiert. Der Berater muss sich zukünftig neben den Tarifbedingungen und den Kriterien Verfügbarkeit, Rentabilität und Sicherheit auch dem Punkt der Nachhaltigkeit seiner Produkte in allen Facetten widmen müssen. Dann wird er auch in der Lage sein, für seine Kunden die zu seinen Wünschen passenden Produkte auszuwählen. Sobald der Gesetzgeber entsprechende Definitionen und Klassifizierungen definiert hat, wird es auch dazu passende Bildungsangebote, beispielsweise bei GOING PUBLIC!, geben.

Über den Interviewpartner

Dr. Wolfgang Kuckertz ist Vorstand der GOING PUBLIC! Akademie für Finanzberatung AG, die auch Kurse zur Zertifizierung nach der DIN-Norm 77230 anbietet.

Bild: © Coloures-Pic – stock.adobe.com