Interview mit Prof. Dr. Julia Pitters, Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Internationalen Hochschule, und Hermann Schrögenauer, Vorstand der LV 1871
Frau Prof. Dr. Pitters, warum rückt finanzielle Unabhängigkeit 2025 so deutlich in den Vordergrund?
Julia Pitters Finanzielle Unabhängigkeit zählt 2025 neben zeitlicher und beruflicher Freiheit zu den wichtigsten Freiheitsdimensionen. Ihr Stellenwert steigt – getrieben von ökonomischer Unsicherheit durch Inflation oder Energiepreisen, geopolitischen Krisen und höheren Gesundheits- bzw. Erwerbsrisiken. Finanzielle Sicherheit wird damit zum Schutzraum für Selbstbestimmung.
Parallel sinkt die Zufriedenheit mit der eigenen finanziellen Lage. Knapp 40% sind nicht zufrieden mit ihrer finanziellen Situation und erleben Kontrollverlust statt Sicherheit. Der Wunsch nach Handlungsfähigkeit wächst, die tatsächliche Absicherung zieht aber nicht automatisch nach.
Frau Prof. Dr. Pitters, Herr Schrögenauer, wenn finanzielle Unabhängigkeit wichtiger wird: Warum erleben viele trotzdem keine echte Sicherheit?
JP Der Financial Freedom Index bewegt sich nach oben, aber noch im Bereich „Normalität“. Diese Stufe ist anfällig: Fällt das Einkommen aus, entstehen schnell existenzielle Lücken. Wir sehen eine Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Hermann Schrögenauer Die Emotionen belegen das. Über die Hälfte der Befragten verbindet mit Finanzen negative statt positive Gefühle. Das fördert kurzfristiges Verhalten – Reserven für die Zukunft werden für Konsumwünsche aufgebraucht, die robuste Absicherung wird vertagt. Genau hier muss Beratung Orientierung geben.
Berufsunfähigkeit wird von den Befragten als zentrales Risiko genannt. Wie groß ist die Bedrohung?
JP Gesundheitsrisiken sind der stärkste Belastungsfaktor für finanzielle Unabhängigkeit. Mehr als jeder Dritte (37,4%) nennt Berufsunfähigkeit explizit als Gefahr – quer durch Alters- und Berufsgruppen.
HS Das ist kein Randthema, sondern Alltag. Wer seine Arbeitskraft nicht schützt, gefährdet die Basis der finanziellen Freiheit. Die wirtschaftlichen Folgen eines Ausfalls sind oft gravierend, wenn kein belastbares Sicherheitsnetz vorhanden ist.
Trotz klarer Wahrnehmung bleibt die BU-Absicherung gering. Was bremst?
JP Viele Menschen rechnen einfach nicht damit, selbst betroffen zu sein. Dieses „Wird schon gutgehen“ führt zu Aufschub und Unterversicherung – obwohl das Risiko als relevant erkannt wird.
HS Hinzu kommen praktische Hürden: Unsicherheit bei Gesundheitsfragen, Angst vor Ablehnung. Wenn Kriterien und Prozesse nicht transparent sind, schrecken Menschen zurück. Verständlichkeit reduziert diese Barrieren.
Wie gut können Haushalte einen längeren Einkommensausfall überbrücken?
JP Über die Hälfte der Befragten (52,4%) kommt nicht länger als sechs Monate ohne Einkommen aus. Ein großer Teil würde zuerst auf Ersparnisse setzen – das ist bei längeren Ausfällen aber nur begrenzt tragfähig.
HS Besonders körperlich Tätige verfügen nur über kleine Puffer: Teils reicht es nur zur Überbrückung eines Monats. Jüngere verlassen sich überdurchschnittlich auf Familie und Freundeskreis. Ohne professionelle Absicherung wird finanzielle Unabhängigkeit schnell fragil.
Welche Rolle spielen Erwartungen an den Staat und Eigenverantwortung?
JP Wir sehen eine Doppelbewegung: Der Wunsch nach staatlicher Unterstützung bleibt hoch, gleichzeitig betonen gerade Jüngere stärker die Eigenverantwortung.
HS Beratung muss das auflösen. Konkret zeigen, was staatlich abgesichert ist, was offen bleibt und wie Eigenvorsorge sinnvoll ergänzt. Sonst wird die Entscheidung vertagt – mit realen Risiken im Schadenfall.
Welche Unterschiede sehen Sie zwischen Generationen und Arbeitsformen – und was folgt daraus?
JP Die Lebensentwürfe differenzieren sich: von früherem Ausstieg bis längerer Erwerbsbiografie. Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Höhe und Dauer der Absicherung – es braucht lebensphasenorientierte Lösungen und flexible Anpassungen.
HS Die Arbeitsrealitäten variieren stark. Körperlich Tätige sind häufiger und länger betroffen, Wissensarbeit erlaubt oft flexiblere Rückkehrpfade. Versicherungen müssen diese Unterschiede abbilden.
Wo liegt denn die größte Lücke zwischen Erkenntnis und Vorsorge?
JP Erstens steigt die Bedeutung finanzieller Unabhängigkeit, die Absicherung gegen Berufsunfähigkeit bleibt dagegen zurück. Zweitens unterschätzen viele die Dauer eines Ausfalls. Drittens bleibt der Deckungsgrad niedrig, obwohl das Risiko klar benannt ist.
HS Das ist die Sollbruchstelle. Wer die Lücke zwischen Ersparnissen, erwarteter Hilfe und tatsächlicher Ausfalldauer nicht kennt, gerät schnell in Engpässe. Beratung sollte das Szenario mit Zahlen und Zeiträumen durchdeklinieren – vom ersten Tag bis zur realistischen Rückkehrfähigkeit.
Welche Produktmerkmale senken Hürden beim Abschluss und im Leistungsfall?
JP Klare Leistungskriterien sind der Schlüssel: Kundinnen und Kunden müssen eindeutig verstehen, unter welchen Bedingungen Leistungen fließen. Das reduziert Interpretationsspielräume und erhöht das Vertrauen.
HS Ebenso wichtig sind transparente Nachversicherungsoptionen mit klaren Anlässen, Fristen und Limits – idealerweise ohne erneute Gesundheitsprüfung. Und Gesundheitsfragen sollten verständlich, konkret und fair kommuniziert werden.
Welche Rolle spielen Vermittlerinnen und Vermittler in diesem Prozess?
HS Sie sind Übersetzer zwischen Produktlogik und Lebensrealität. Gute Beratung schafft Struktur: Bedarf ermitteln, Prioritäten setzen, sauber dokumentieren. Wer Erhöhungsmechanismen, Leistungsdefinitionen und Alternativen klar erklärt, erhöht Abschluss- und Leistungsfähigkeit zugleich.
Was heißt das ganz konkret für die Beratungspraxis?
HS Starten Sie mit dem Schadenszenario: Wie schnell entsteht die Einkommenslücke, wie lange dauert sie realistischerweise, welche Puffer existieren – und wie groß ist die Differenz? Diese Transparenz schafft Akzeptanz für belastbare Lösungen. Auf Produktebene muss klar sein, wann Leistungen fließen, wie die Absicherung später ohne neue Gesundheitsprüfung erhöht werden kann und welche Gesundheitsangaben vor Abschluss erforderlich sind.
Dazu kommt: Alters- und Berufsgruppen brauchen unterschiedliche Schwerpunkte. Wer das strukturiert adressiert, stabilisiert die finanzielle Unabhängigkeit und nach meiner Überzeugung auch die Kundenbeziehung nachhaltig.
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Prof. Dr. Julia Pitters
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