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18. November 2021
Industrie 4.0: Neue Risiken und Versicherungsschutz

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Industrie 4.0: Neue Risiken und Versicherungsschutz

2. Das Denken in über­kommenen Sparten und Versicherungsprodukten greift zu kurz – Fragestellungen zum Versicherungsschutz

Die Herausforderung besteht vielmehr darin, innovative und individuelle Versicherungslösungen zu schaffen, um vernetzte Prozesse zu versichern. Notwendig ist ein holistisches Risikomanagement, das unterschiedliche Risikokategorien und -Risikosphären berücksichtigt. Nachfolgend sind nur einige Fragestellungen herausgegriffen, die sich Versicherungsnehmern, Maklern und Versicherern bei der Absicherung der vernetzten Welt der Industrie 4.0 stellen.

Was ist versichert?

Wenn es um neue Policen geht, dann besteht eine grundlegende Herausforderung darin, klar zu bestimmen, was die Versicherung sachlich-inhaltlich deckt: Was ist der Versicherungsgegenstand und welches Interesse ist versichert?

Eine Einordnung in Sach- oder Haftpflichtversicherung passt hier kaum. Liefert ein Hersteller eine Maschine an einen Produzenten, lässt sich recht gut bestimmen, wo seine Verantwortungssphäre endet und für welche Schäden beim Produzenten oder Dritten der Hersteller haftet. Doch wie liegt es, wenn der Hersteller dem Produzenten die Nutzung einer voll vernetzten Maschine vertraglich überlässt und dabei eine festgelegte Nutzungszeit oder eine Stückzahl an Produkten garantiert, und die Maschine dieses Leistungsversprechen nicht erreicht – etwa aufgrund eines Softwarefehlers? In diesem Geschäftsmodell könnte der Hersteller die (Verletzung der) Garantie versichern. Sofort zeigt sich: Eine auf den allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung (AHB) basierende, klassische Haftpflichtversicherung erfasst schon nach ihrem Gegenstand nur die gesetzliche Haftpflicht, nicht aber gesonderte Haftungsübernahmen bzw. Garantien, und stellt dies zudem durch Ausschlüsse klar. Ebenso wenig passt hier der übliche Ausschluss von Erfüllungsschäden.

Neue, vernetzte Produkte werfen die – umstrittene – Frage auf, ob das bestehende Produktsicherheits- und Produkthaftungsrecht ausreicht. Was die Frage der Versicherbarkeit anbelangt, dürften die existenten Kategorien der Produkthaftpflichtversicherung von Verbindung, Vermischung und Verarbeitung jedenfalls nicht ausreichen, um die Risiken klar zu erfassen und abzugrenzen.

Wer ist versichert?

Es schließt sich die Frage an, wer bei Deckungen neuer Geschäfts­modelle Versicherungsnehmer bzw. Versicherter ist. Versichert der Hersteller im obigen Beispiel also allein sein Haftpflichtinteresse für den Fall der Minderleistung der von ihm bereitgestellten Maschine? Soll möglicherweise der Produzent mitversichert (Fremdversicherung) sein mit Blick auf seinen Vermögensschaden infolge der Minderleistung der Maschine? Oder soll der Produzent diesen Eigenschaden auf eigenes Interesse absichern? Einheitslösungen helfen hier wenig. Maßgeblich ist, das jeweilige „Ökosystem“ in der Industrie 4.0 zu erfassen.

Was löst die Deckung aus?

Für neue Policen braucht es neue Regelungen des Versicherungsfalls, der den Versicherungsschutz – oder einen Deckungsbaustein – auslöst. Sicher umso mehr eine Herausforderung, je komplexer die Risiken sind. Das zeigt sich schon bei bestehenden Cyberpolicen, die teilweise mit mehreren (mehr oder weniger gut abgestimmten) Versicherungsfalldefinitionen für die typischen Leistungsbausteine Haftpflicht, Eigenschäden und Kostendeckung arbeiten, teilweise aber auch eine einheitliche Versicherungsfalldefinition enthalten – dann aber gekoppelt mit weiteren Leistungsvoraussetzungen. Einen strukturellen Ansatz könnten hier Projektversicherungen bieten, die spartenübergreifend Deckungsschutz gegen alle möglichen Risiken bieten.

Welches Risikoniveau ist versichert – und wie steht es mit Veränderungen?

Versicherungsverträge und gesetzliche Regelungen des Versicherungsvertragsrechts legen zugrunde, dass der Versicherer mit Abschluss des Versicherungsvertrages ein bestimmtes Risiko übernimmt – Risikotransfer. Regelungen zu vor Abschluss des Vertrages zu erfüllenden Obliegenheiten, insbesondere zur Auskunft auf Risikofragen, sollen sicherstellen, dass der Versicherer das übernommene Risiko kennt und richtig bewertet. Regelungen zu Gefahrerhöhungen und vor Eintritt des Versicherungsfalls zu erfüllenden Obliegenheiten sollen sicherstellen, dass sich das „Gefahren­niveau“ während der versicherten Zeit nicht zulasten des Versicherers verändert. Problematisch ist, dass diese Regelungen nicht nur von einem bestimmten, vertraglich übernommenen Risikoniveau bei Vertragsschluss ausgehen, sondern dass sie dieses versicherte Risikoniveau gewissermaßen „einfrieren“. Insbesondere die Regelungen zu Gefahrerhöhungen sind gerade nicht für Risiken konzipiert, die sich ihrem Wesen nach dynamisch entwickeln. Zwar dürften vernetzte Systeme, die sich eigenständig technologisch weiterentwickeln und kontrollieren, auf der einen Seite immer sicherer werden. Andererseits steigen mit zunehmender Vernetzungstiefe auch Abhängigkeiten und Vulnerabilität. Wann liegt etwa eine anzeigepflichtige Gefahrerhöhung vor, wenn eine Maschine sich selbst verändert?

Bestehende Versicherungsverträge enthalten zudem regelmäßig Erprobungs- oder Prototypenklauseln. Der Versicherer will damit ausschließen, dass er das Entwicklungsrisiko des Versicherungsnehmers für neue Produkte oder Technologien übernimmt, die möglicherweise noch in den Kinderschuhen stecken. Erprobungsklauseln sind schon unter bestehenden Versicherungsverträgen in der Praxis ein häufiger rechtlicher Streitpunkt. Noch schwieriger dürfte es damit werden, wenn eine voll vernetzte Produktion systemisch darauf angelegt ist, sich autonom zu verhalten und zu entwickeln. Wann ist ein solches System ausreichend erprobt, wenn nicht nur das eigene System des Produzenten seine Entwicklung steuert, sondern auch das System des Zulieferers dieses System beeinflusst?

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Ein Artikel von
Christian Drave, LL.M.