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1. Juni 2021
Kleine Kinder bei Unfall im Straßenverkehr mitschuldig?

Kleine Kinder bei Unfall im Straßenverkehr mitschuldig?

Wer haftet für schwere Verletzungen und Langzeitfolgen eines Kindes, das Opfer eines Verkehrsunfalls wurde? Trägt der Autofahrer die volle Haftung oder muss sich das kleine Mädchen auch eine Mitschuld an dem Vorfall zurechnen lassen, wenn es sich falsch verhalten hat? Das musste nun das OLG Celle entscheiden.

Kinder sind im Straßenverkehr besonders gefährdet. Häufig verfügen sie nicht über die Umsicht eines Erwachsenen und sind von einer Verkehrssituation schnell überfordert. Wenn sich ein überfordertes Kind im Straßenverkehr falsch verhält und bei einem Unfall zu Schaden kommt, wie sieht es dann mit der Haftung für die erlittenen Verletzungen des Kindes aus? Dazu musste nun das Oberlandesgericht (OLG) Celle eine Entscheidung treffen.

Mädchen ist Teil einer Gruppe von vier Kindern

Das damals elf Jahre alte Kind versuchte im Dezember 2012 kurz vor 8 Uhr morgens eine Straße zu überqueren. Das Mädchen war eines von vier Kindern, die sich an diesem noch dunklen Morgen auf dem Schulweg befanden. Eines der vorausgehenden Kinder trug eine gelb reflektierende Jacke. Das Mädchen jedoch nicht.

Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs

Während die Kinder die Straße überquerten, näherte sich ein Auto mit leicht überhöhter Geschwindigkeit (55 anstatt 50 Stundenkilometer). Die drei vorausgehenden Kinder schafften es heil über die Straße. Das elfjährige Mädchen hingegen wurde kurz vor dem Erreichen des Bürgersteigs von dem Fahrzeug erfasst und schwer verletzt.

Schwere Verletzungen durch Unfall

Das Mädchen erlitt damals einen Beckenbruch, einen Dammriss und eine Mittelgesichtsprellung. Es musste stationär behandelt werden und trug dauerhafte Schäden von dem Unfall davon. Die mittlerweile erwachsene Klägerin verlangte von dem Fahrer bzw. dem Halter der Haftpflichtversicherung des Unfallfahrzeugs zum einen Schmerzensgeld und zum anderen die gerichtliche Verpflichtung, für künftige unfallbedingte Kosten der Geschädigten aufzukommen.

Fahrer trägt alleinige Schuld

In erster Instanz hatte das Landgericht ein Mitverschulden des Mädchens an dem Unfall angenommen und aufgrund dessen die Ansprüche der Klägerin um 25% gemindert. Das Urteil hatte vor dem OLG Celle jedoch keinen Bestand. Das Gericht gab der Klägerin mit seinem Urteil recht. Der Autofahrer habe den Unfall durch sein Verhalten ganz überwiegend verschuldet. Nach § 3 Abs. 2a der Straßenverkehrsordnung (StVO) müsse sich ein Fahrzeugführer so verhalten, dass eine Gefährdung insbesondere von Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen ausgeschlossen ist.

Fahrverhalten anpassen und Geschwindigkeit reduzieren

Der Fahrer hätte sein Fahrverhalten dementsprechend sofort anpassen müssen, nachdem er die Kinder im Straßenbereich wahrgenommen hatte. Außerdem hätte er den Unfall nach Überzeugung des Gerichts auch verhindern können, wenn er die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte.

Fehlverhalten des Kindes führt nicht zu Mitverschulden

Zweifellos habe sich das Kind zwar ebenfalls falsch verhalten. Zum Beispiel hatte es beim Überqueren der Straße den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr nicht ausreichend beachtet. Ein Mitverschulden sieht das OLG Celle dennoch nicht. Kinder könnten immerhin erst ab Vollendung des zehnten Lebensjahres für Unfälle im Straßenverkehr verantwortlich sein. Das nur unwesentlich ältere Kind sei nachvollziehbar überfordert gewesen, da es sich schon auf der Straße befand, als es das Fahrzeug wahrnahm. Die Entfernung und Geschwindigkeit des Fahrzeugs wiederum habe das Kind auch aufgrund der Dunkelheit falsch eingeschätzt und reflexhaft die falsche Entscheidung getroffen. Nämlich die, einfach der Gruppe hinterherzulaufen. Der Autofahrer hätte sich jedoch nicht darauf verlassen dürfen, dass das Kind die rational richtige Entscheidung trifft.

Schadensersatz höher als von Klägerin gefordert

Der Beklagte ist dementsprechend verpflichtet, der Klägerin ihren materiellen Schaden vollständig zu ersetzen. Außerdem hat das Gericht den Beklagten zu Schmerzensgeldzahlungen in Höhe von 35.000 Euro verpflichtet – ein Betrag, der weit über den ursprünglichen Forderungen der klagenden jungen Frau von 25.000 Euro lag. Das Gericht erhöhte den Betrag deshalb, weil neben den schweren Verletzungen und Dauerschäden aufgrund der Verletzungen im Genitalbereich auch die Risiken einer künftigen Schwangerschaft erhöht seien. Des Weiteren wird die junge Frau aufgrund ihres Alters voraussichtlich noch lange an den Verletzungsfolgen zu tragen haben. (tku)

OLG Celle, Urteil vom 19.05.2021 – 14 U 129/20

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