AssCompact suche
Home
Management & Wissen
8. Mai 2023
Machtwechsel auf Arbeitsmarkt: So lebt die Versicherungsbranche New Work
Corporate Lifestyle And Communication. Multiracial Coworkers Different Ages Communicating Standing Near Table During Business Meeting In Modern Office, Panorama With Copy Space, Collage

Machtwechsel auf Arbeitsmarkt: So lebt die Versicherungsbranche New Work

Im zweiten Teil der New-Work-Serie bei AssCompact nehmen Betina Kirsch und Julia Blank vom AGV das Thema in den Blick und zeigen auf, wie New Work die Versicherungsbranche bereits verändert hat und auch zukünftig verändern wird. Dabei geben sie wichtige Impulse für das neue Miteinander in der Arbeitswelt.

Ein Artikel von Betina Kirsch, Rechtsanwältin und Geschäftsführerin des Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland (AGV), und Julia Blank, Economist (M.Sc.) beim AGV

Wer heutzutage durch LinkedIn scrollt und auf Beiträge namhafter Vorstände und Bereichsleitungen aus der Branche stößt, dem begegnen Hashtags wie #dubistnichtallein, #strongertogether, #proudtobe, #growtogether, #füreinander. Die Branche zeigt sich zunehmend „menschlicher“ und „nahbarer“. Arbeit ist offensichtlich nicht mehr nur Broterwerb, sondern „Gemeinschaft“. Was ist passiert? Spätestens seit dem „Ausklingen von Corona“ transformiert New Work die Versicherungsbranche mit krasser Wucht.

Wofür steht New Work? Ähnlich wie Alicia Keys es in ihrem Song „Empire State of Mind“ besingt: „… There´s nothin’ you can´t do, now you´re in New Y(W)ork, these streets will make you feel brand new, big lights will inspire you …“, geht es um ein neues Mindset im Arbeits­leben. Die Beschäftigten sind nicht mehr „nur“ Mitarbeitende, sondern MITGESTALTENDE: Augenhöhe statt Hierarchie, ortsflexibles Arbeiten statt Büro, Vertrauen statt Kontrolle, „Diversity“ statt „Pass dich an“.

Corona und Demografie als New-Work-Booster

Die Gründe für New Work liegen auf der Hand: zunehmende Disruption, Digitalisierung sowie stetiger Innovationsdruck erfordern ein neues Verständnis von Arbeit. Für den Durchbruch sorgte Corona mit dem ungeplanten Feldversuch von flächendeckend fünf Tagen Home-­Office. Freiwillig hätten die Unternehmen ihre Komfort- und Kontrollzone wohl nicht so weit verlassen.

Ein weiterer wichtiger Treiber für New Work ist die Demografie. War das letzte Jahrzehnt noch davon geprägt, dass die Versicherer neue Mitarbeitende finden konnten, ist der Arbeitsmarkt heutzutage leergefegt. Für 82% der Versicherungsunternehmen ist die Fachkräftegewinnung nunmehr (erheblich) schwerer als vor der Pandemie. Time-to-hire beträgt durchschnittlich 70 Tage, in Fachbereichen wie Informatik gibt es deutliche Abweichungen nach oben, teils sogar bis zu zehn Monate. Im Durchschnitt gehen für eine ausgeschriebene Stelle nur 13 Bewerbungen ein (AGV Recruiting Umfrage 2022). Die Dramatik des „Arbeitskräftemangels“ wird sich künftig noch mehr zuspitzen. 21% der Innendienst­belegschaft sind über 55 Jahre alt. Im Schnitt gehen derzeit Mitarbeitende „viel zu früh“ mit 63 Jahren in Rente (AGV Flexible Personal­statistik 2021).

Drei Tage Home-Office ist die Regel

Beschäftigte haben angesichts des zunehmenden Bewerbermarktes ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Sie gestalten heute grundlegende Arbeitsbedingungen aktiv mit. Wer als Arbeitgeber „old school“ tickt, wird in Mitarbeiterbefragungen oder bei Kununu abgestraft. Im Worst Case kündigen Mitarbeitende sogar ihr Arbeitsverhältnis. Active Sourcer bringen auch solche Mitarbeitende in Versuchung, die eigentlich gar nicht auf der Suche sind. Diese Entwicklung spiegelt sich bereits heute im steigenden Anteil von Arbeitnehmerkündigungen (2,5% bei 6,1% Gesamtfluktuation im Innendienst; AGV Fluktuationserhebung 2022).

Gut festmachen lässt sich diese neue „Gestaltungsmacht“ an der Mobilarbeit. Vor Corona haben gerade mal 35% der Beschäftigten (geschätzt maximal zwei Tage pro Woche) mobil gearbeitet (AGV Umfrage Mobilarbeit 2021). Heute ist Mobilarbeit überall dort möglich, wo es der Job inhaltlich hergibt. Im Schnitt können Innendienstangestellte mittlerweile drei Tage pro Woche mobil arbeiten. Haben die Häuser anfangs noch eine Mobilarbeitsquote von unter 50% angepeilt, so haben sie sich den Wünschen der Beschäftigten nach mehr Mobilarbeit angepasst. Eines von fünf Unternehmen geht bewusst den Trend zu vier Tagen möglicher Mobilarbeit und mehr, um so Zufriedenheit und Recruitingpotenzial zu erhöhen (AGV Umfrage Mobilarbeit und Hybrides Arbeiten 2022). Den Vier-Tage-Spielraum nutzen die Beschäftigten meist gar nicht aus. Workation, sprich zeit­weises Arbeiten aus dem EU-Ausland, ist der nächste Level, den immer mehr Unternehmen anstreben, um ihre Attraktivität zu steigern.

War VOR Corona die Anwesenheit im Büro eine Selbstverständlichkeit, braucht die Führungskraft nunmehr einen „sinnvollen Grund“, das Team ins Büro zu holen. Teamtage, Schulungen oder Personal­gespräche tauchen oft als Referenzgründe in Betriebsvereinbarungen auf. Diesem Trend folgen auch die Büroflächen. 72% der Unternehmen transformierten ihre Office-Welten à la New Work zu Desksharing-Konzepten mit kollaborativen Besprechungsräumen, inspirierenden Kreativräumen und Kaffeebars (AGV Umfrage Mobilarbeit und Hybrides Arbeiten 2022). Büro ist nicht mehr nur „steriler Arbeitsort“, sondern „Event und Netzwerkpoint“. Mit kostenlosen Bratwürsten, Eis und sonstigen Aktionen wird versucht, die Mitarbeitenden ins Büro zu locken.

New Work zeichnet sich mehr und mehr in der Sprache ab. Das Nähe vermittelnde „Du“ löst zunehmend das distanzierte „Sie“ ab. In „AGV KURZ NACHGEFRAGT“ gaben mehr als zwei Drittel der Beschäftigten an, das „Du“ habe einen positiven Einfluss auf die Unternehmenskultur und das Gefühl von Augenhöhe.

New Work – nicht nur Gain, sondern auch Pain

Führen ist noch anspruchsvoller geworden. Führungskräfte, die heute im Schnitt 48 Jahre alt sind und in der „alten Arbeitswelt“ sozialisiert wurden, müssen ihre Führungsrolle neu verstehen. Es geht nicht mehr darum: Was können meine Mitarbeitenden für mich tun? Sondern: Was kann ich für meine Mitarbeitenden tun? Das hybrid zerstreute Team mit seinen selbstbewussten Individualinteressen zusammenzuhalten, zu binden und zu motivieren, ist primäre Führungsherausforderung. Onboarding wird von 21% der Führungskräfte als besondere Herausforderung bewertet.

Laut AGV Beschäftigtenbefragung 2023 kommt der Flow in hybriden Teams teilweise ins Stocken, insbesondere beim Wissens- und Erfahrungsaustausch, bei der Zusammenarbeit in kreativen oder kritischen Projektphasen sowie bei der Effizienz interner Arbeitsabläufe, so die Rückmeldung von knapp 20% der Befragten. Hier gute Lösungen im Team auszutarieren, ist für die Produktivität unerlässlich.

So sehr Mitarbeitende ihre neue Freiheit schätzen, der Wegfall gewohnter Strukturen kann zu psychischen Belastungen führen. Die Gefahr besteht vor allem, wenn weit überwiegend mobil gearbeitet wird. Laut einer vom TÜV-Verband 2022 beauftragten Forsa-Umfrage fühlten sich 30% der im Home-Office bzw. mobil arbeitenden Erwerbs­tätigen oft allein oder isoliert. Auch darauf muss die Führungskraft ein Auge haben.

Wie geht es weiter?

Der Arbeitsmarkt war für Beschäftigte noch nie besser als heute. Der Überbietungswettbewerb ist im Gang. Wenn Unternehmen immer mehr auf den Tisch legen, wird jedes Benefit zur „Regel“.

Wie also als Arbeitgeber den Unterschied machen? Die eingangs erwähnten Hashtags verfolgen die richtige Strategie. Es geht weniger um noch mehr Benefits als vielmehr um das authentische „WIR“. Führungskräfte als Transmitter der Unternehmenskultur sind entscheidend, um diese Hashtags mit Leben zu füllen. Auch das Personalressort, das überall dort ist, wo es menschelt, hat eine katalysierende Rolle. Nicht umsonst heißt Human Resources immer öfter People & Culture.

Lesen Sie auch: New Work – Wer bist du eigentlich?

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 05/2023, S. 84 f., und in unserem ePaper.

Bild: © Prostock-studio – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Julia Blank
Betina Kirsch