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24. November 2021
Versicherer: In sechs Schritten auf Industriekunden ausrichten

Versicherer: In sechs Schritten auf Industriekunden ausrichten

Das Versicherungsgeschäft steht vor Herausforderungen. Bedürfnisse und Strukturen der Industriekunden ändern sich, digitale Transformation bleibt in den Kinderschuhen. Die Managementberatung EY Innovalue beschreibt Handlungsfelder, mit denen Versicherer auf veränderte Industrie reagieren können.

Von David Kuprasch, Engagement Manager bei EY Innovalue, und Johannes Schmidt, Director bei EY Innovalue

Die Zeit ist gekommen, dass sich eine der ältesten Branchen des Planeten neu erfindet. Zu lange schon haben Industrieversicherer mit trägem Wachstum und flachen Margen zu kämpfen. Viele Marktteilnehmer sträuben sich noch immer, die hohen, aber nötigen Investitionen in die fundamentale digitale Transformation ihrer Organisation zu tätigen. Oft werden Komplexität und Individualität in der Industrieversicherung als Gründe für den Transformationsrückstand genannt. Doch es zeigt sich Bewegung im Markt. Einige Marktteilnehmer haben sich aufgemacht, Digitalisierungswiderstände zu überwinden, und arbeiten an neuen und dynamischen Leistungsangeboten für ihre heutigen und künftigen Kunden.

Chancen für Industrieversicherer: Technologischer Fortschritt und veränderte Kundenbedürfnisse

Vergleicht man die Vermögensstrukturen der weltweit größten Unternehmen im Jahr 1990 mit 2021, wird evident, dass die Wertschöpfung immer stärker von immateriellen Werten wie Daten, Vertrauen, Reputation oder Netzwerkeffekten abhängt. Entsprechend haben sich die Risikoprofile und die Absicherungsbedürfnisse von Industriekunden verändert. Kunden fragen verstärkt nach Deckungen für genau diese immateriellen Risiken, die über heutige Business-Interruption- (und CBI-) Deckungen hinausgehen. Gefordert sind neue Versicherungsprodukte zur Absicherung von Cashflow-Risiken beispielsweise im Falle von Lizenzentzug regulierter Produkte, politischen Events oder bei Insolvenz von wichtigen Lieferanten. Welche Potenziale in neuen Risikoklassen wie beispielsweise Krypto-Risiken liegen, wird durch die Verdopplung des globalen Prämienvolumens in der Cyberversicherung innerhalb von nur drei Jahren (Quelle: AM Best) deutlich. Um die Potenziale in neuen und erweiterten Bereichen des Risikotransfers zu heben, sind innovative Wege der Risikobewertung und des Pricings nötig. Hierfür sind wiederum ausreichend große Mengen von relevanten Daten erforderlich, die strukturiert in die Systeme und Prozesse des Versicherers fließen müssen.

Durch die wachsenden verfügbaren Datenmengen steigt auch die Nachfrage und damit das Potenzial maßgeschneiderter und daten-getriebener Lösungen zur Risikoprävention. Neben weiterem Kundennutzen tragen entsprechende Services zu einer effektiv niedrigeren Schadenquote bei. Manche Versicherer haben bereits ihre Risk-Engineering-Einheit als Profitcenter aufgestellt, um Kunden ein breites Spektrum an Analytics- und Präventionsservices sowie angrenzenden Services auch unabhängig vom Risikotransfer zu bieten. Wichtig ist: Versicherer sollten einen Weg finden, um Zugang zu relevanten externen Datenquellen zu erhalten. Mittelfristig werden die internen Daten der Versicherer allein kein Differenzierungsfaktor mehr sein.

Ein weiterer Trend zeigt sich im zunehmenden Anteil an Unternehmen mit teilweise oder vollständig digital ausgerichteten Geschäfts­modellen – selbst in traditionellen Branchen. Jene Unternehmen werden zunehmend höhere Anforderungen an Transparenz und den effizienten digitalen Austausch von Risiko-, Vertrags- und Schaden­daten mit Maklern und Versicherern stellen. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass sie ihre Risiken unter Einsatz von Sensorik, Smart Analytics und IoT-Anwendungen zunehmend besser verstehen und teilweise sogar selbst managen können.

Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen erscheinen viele Industrieversicherer heute allerdings wenig vorbereitet. Schaut man in den Maschinenraum, finden sich dort häufig noch manuelle Prozesse, Excel-basierte Datenaustauschformate und eine fragmentierte Systemlandschaft, die Innovationskraft, betriebliche Agilität und operative Exzellenz im Unternehmen behindern. Dadurch ergibt sich für die Industrieversicherer ein struktureller Nachteil, der sich oftmals in hohen Kostenquoten zeigt und es letztlich immer schwieriger macht, Kunden- und Makleranforderungen zu erfüllen. Eine große Hürde für die weitere Automatisierung von Prozessen sind noch immer uneinheitliche Definitionen und Formate für einen effizienten Datenaustausch im eigenen Haus und mit anderen Marktteilnehmern. Dabei könnten über einen standardisierten Datenaustausch für viele Anwendungsfälle alle Marktteilnehmer in der Industrieversicherung profitieren. Beispielsweise ließen sich Eingänge von digitalen Platzierungsplattformen, wie sie bereits von Lloyds genutzt werden, einfacher verarbeiten. Auch der Sprung zu einer All-in-one-Portal­lösung über mehrere Versicherer, ähnlich dem Open-Banking-Gedanken, würde deutlich vereinfacht.

Neben einer Standardisierung des Datenaustausches bieten jedoch die Daten selbst noch enorme Potenziale. Bislang werden nur rund 27% der betrieblichen Daten für Analytics verwendet, um das Kerngeschäft zu unterstützen und hochwertige Services anzubieten (Forrester).

Fest steht: Nachhaltige Werte für Unternehmen und Kunden können nur generiert werden, wenn der Transformationsrückstand in der Industrieversicherung aufgeholt wird und Marktteilnehmer ihre Innovationskraft nachhaltig stärken.

Sechs Schritte, um den Digitalisierungswiderstand zu überwinden

1. Errichtung eines soliden Fundaments für die Zukunft: Als Grundvoraussetzung für jegliche Initiativen sollten Industrieversicherer die Vereinhei­tlichung von Daten- und Dokumentenformaten priorisieren. Daneben sollten Lösungen für die Parametrisierung von Wordings erarbeitet werden, die einerseits deren Wiederverwendbarkeit und digitale Abbildung ermöglichen und andererseits trotzdem Individualität ermöglichen. Dies sollte auf einer zukunftsfähigen, das heißt adaptiven und integrativen technischen Infrastruktur entwickelt werden.

2. Erhöhung des Kundennutzens durch individuelle und auf zukünftige Risikoprofile zugeschnittene Versicherungslösungen: Versicherer sollten auf flexible und maßgeschneiderte Deckungskonzepte setzen, die reflektieren, wie heutige und künftige Industriekunden strukturiert sind und arbeiten. Dabei sollten Versicherungs­lösungen stets vor dem Hintergrund der sich im Zuge des technischen und industriellen Fortschritts wandelnden Risikolandschaft überdacht und angepasst werden. So wird die Fähigkeit, neue immaterielle Risiken zu modellieren, zu bepreisen und entsprechende Versicherungsprodukte zu entwickeln, es einigen Versicherern ermöglichen, überdurchschnittlich am Marktwachstum zu partizipieren. Hierbei ist zu beachten, dass maßgeschneiderte Lösungen für einige Produkte und Kunden erst möglich werden und zu profitablem Geschäft führen, wenn Underwriting-, Schaden- und Abrechnungs­prozesse digitalisiert wurden.

3. Steigerung der Innovationskraft und Mut zu radikalen Neuerungen statt inkrementeller und vorsichtiger Weiterentwicklungen: Es gibt keinen Zweifel, dass zunächst signifikante Investitionen in neue Technologien notwendig sind, um die bereits beschriebenen Potenziale zu heben. Alle Technologien sollten deshalb hinsichtlich ihres langfristigen Beitrags zur Steigerung des Wachstums oder zur Verbesserung der Profitabilität bewertet werden. Höchste Priorität sollten Plattform-Lösungen und Toolsets haben, die Kunden, Partner und andere Marktteilnehmer vernetzen und einen effizienten Datenaustausch fördern, welcher in einer immer weiter vernetzten Wirtschaft Kern der zukünftigen Wertschöpfung ist.

4. Transformation zum Präventions- und Risikoberater: Solange es Schäden gibt, wird es auch Versicherungen geben. Dennoch wird die Schadenfrequenz langfristig durch stärkere daten­getriebene Prävention und frühzeitige Erkennung von Gefahren fallen. Um als Versicherer an diesem Trend zu partizipieren, ist eine fundamentale Anpassung des heutigen Risk-Engineering-Geschäftsmodells notwendig. Künftig sollten neben dem klassischen Risikotransfer auch Präventions-, Analyse- und Beratungsservices angeboten werden. Zudem ist zu entscheiden, in welchen Märkten, über welche Kanäle und mit welchem Preismodell die Services vertrieben werden. Mit der Erweiterung des Servicespektrums in angrenzende Bereiche können auch die Positionierung in bestehenden Ökosystemen oder eine aktive Rolle bei der Errichtung neuer Ökosysteme neue Vertriebs­potenziale eröffnen.

5. Stärkung der digitalen Vernetzung: Die kommerzielle Versicherungswertschöpfungskette involviert eine Vielzahl an Akteuren wie zum Beispiel Captives, Versicherungsmakler, Erstversicherer und Rückver­sicherer. Fragmentierte Prozess- und Systemlandschaften verursachen für alle Beteiligten hohe manuelle Aufwände. In Zukunft erwarten wir, dass starre Rollenverteilungen und kurzfristige Interessen einzelner Akteure zugunsten von Synergiepotenzialen und Kundenbedürfnissen an Bedeutung verlieren. Die zukünftige Wertschöpfung wird deutlich offener, transparenter und kollaborativer. Industrieversicherer sollten sich strategisch in ihrem Ökosystem positionieren und den eigenen Mehrwert differenziert herausstellen. Investitionen in Plattformen und Toolsets mit direktem Anschluss von Kunden und Partnern sollten priorisiert werden, um den Datenaustausch und effizientere Interaktionen als Grundbaustein für Synergien entlang der Wertschöpfungs­kette zu fördern.

6. Transformation zur Workforce der Zukunft: Um im Wett­bewerb um Talente zu bestehen, sollten Versicherer neben einem attraktiven Paket aus Vergütung und Perspektive längst an ihrer Differenzierung in weiteren Aspekten des Arbeitsumfeldes arbeiten. In der Industrieversicherung sollten Mitarbeitern die nötigen technologischen und digitalen Fähigkeiten angeeignet werden, um die oben beschriebene Transformation mitgehen und aktiv gestalten zu können. Daneben sollten Mitarbeiter befähigt werden, Risiken ein­zugehen, neue Ideen zu erproben, aber auch zu scheitern, um die nötige Steigerung der Innovationskraft zu erreichen.

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 11/2021, Seite 44 ff., und unserem ePaper.

Bild: © Nay –stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
David Kuprasch
Johannes Schmidt