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14. Juni 2021
Wie Versicherungen ihre Geschäftsmodelle neu ausrichten

Wie Versicherungen ihre Geschäftsmodelle neu ausrichten

Das Internet der Dinge (IoT), künstliche Intelligenz (KI) und Data Analytics erlauben es den Versicherungen, ihr Geschäftsmodell neu auszurichten: Anstatt Schäden nur zu regulieren, können sie die Macht der Daten nutzen, um den Versicherungsfall von vornherein zu verhindern.

Ein Beitrag von Kai-Uwe Reiter, Leiter Insurance Consulting bei Sopra Steria

Ein Feuer kam für die Hamburger Brauereien im 16. Jahrhundert schnell einer Bankrotterklärung gleich. Also entschieden sich die Unternehmen 1591 über eine Interessengemeinschaft zum Abschluss von Feuerkontrakten. Es war der Grundstein für die gut 80 Jahre später ins Leben gerufene Hamburger Feuerkasse – das älteste Versicherungsunternehmen der Welt. Seit jener Zeit hat sich am Geschäftsmodell der Versicherungen nicht viel verändert: Die Assekuranzen managen Risiken und regulieren eingetretene Schäden.

Doch angesichts eines immer intensiveren Wettbewerbs und der Möglichkeiten der Digitalisierung ist ein Umdenken geboten. Die Versicherer verfügen heute über eine Vielzahl von Daten und Technologien, die es ihnen erlauben, sich ein wesentlich umfassenderes Bild von ihren Kunden zu verschaffen und das eigene Geschäftsmodell neu zu denken. Statt sich in der Sparte Sachversicherungen auf die Regulierung bereits eingetretener Schäden zu fokussieren, können Versicherer dank innovativer Technologien die Prävention stärker als bislang in den Vordergrund ihres Handelns stellen. Sie haben so die Chance, dass Kunden sie anders wahrnehmen: nicht mehr als reinen Risiko-Übernehmer, sondern als Unternehmen, das dazu beiträgt, Unheil fernzuhalten.

Industrieunternehmen als Vorbilder

Die Technologien, die solche Ansätze ermöglichen, sind bereits heute vorhanden und im Einsatz. Die Kombination von künstlicher Intelligenz, Big Data Analytics, verschiedenen Formen von Internet of Things (IoT) und Computer Vision hilft dabei, Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu umgehen. Das Mineralölunternehmen Shell beispielsweise nutzt ein KI-gestütztes System, um die Gefahr von Rauchern an seinen Tankstellen zu bannen. Die Lufthansa treibt seit Jahren das Predictive Maintenance für Maschinen im zivilen Luftverkehr voran. Der Einsatz von smarten Sensoren, Data Analytics und künstlicher Intelligenz hilft dabei, die Wartungen der Flugzeuge zu optimieren.

Anders als diese Industrieunternehmen verfügen die Versicherer über eine Vielzahl verschiedener Datenquellen, die sich in sehr ähnlicher Weise für einen präventiven Ansatz nutzen lassen. Dazu gehören anonymisierte Querschnittsdaten verschiedener Kunden sowie durch Datendienstleister bereitgestellte Informationen. Innovative Technologien wie Cloud-gestütztes Cognitive Search, Data Analytics und Data-Mining-Lösungen können Muster sowie strukturelle Veränderungen der Daten erkennen und frühzeitig sichtbar machen.

Gleichzeitig ermöglichen diese Technologien, gezieltes Interesse zu wecken, personalisierte Angebote zu entwickeln und Versicherungsnehmern passgenaue Lösungen an die Hand zu geben. Durch ein spezifisches Design dieser Lösungen ist es dann möglich, ein Digital Nudging zu etablieren – also den Versicherungsnehmer bei Entscheidungen so zu unterstützen, dass sich das Risiko eines Schadenfalles minimiert. Die bislang eher passive Rolle der Versicherungen wandelt sich zu einer aktiven Berater- und Begleiterrolle.

Datengesteuerte Tarife für Produktionsanlagen, ...

Ansätze für datengetriebene Prävention gibt es seit Einführung von Telematiktarifen bei Kfz-Versicherungen. Das Fahrverhalten des Fahrzeugführers entscheidet bei diesen Tarifen über die konkrete Tarifhöhe. Durch Anreize werden die Fahrenden dazu bewegt, vorsichtiger zu fahren, wodurch das Schadeneintrittsrisiko sinkt.

Eine Weiterentwicklung dieser Idee ist überfällig: Tatsächlich lassen sich solche Tarife durch das Internet der Dinge (IoT) inzwischen auf nahezu jedes andere Gut übertragen und müssen nicht mehr exklusiv für die Kfz-Versicherungen gedacht werden. Der Blick über die Grenzen des Versicherungsmetiers hinweg macht das sehr deutlich: Bei Windkraftanlagen spielt beispielsweise die vorausschauende Wartung eine große Rolle, da die Vor-Ort-Kontrolle der Maschine stets mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Der Einsatz von smarten Sensoren, Data Analytics und künstlicher Intelligenz hilft dabei, die Wartungen der Anlagen zu erleichtern und den Einsatz zu optimieren. Anstatt lediglich im Schadenfall mit dem Betreiber in Kontakt zu treten, können Versicherer hier ihre Datenexpertise nutzen, aktiv an den Anlagenbetreiber herantreten und so mögliche Schadenfälle abwenden.

Der technologische Ansatz ist dabei identisch mit jenem, der sich nutzen lässt, um Ausfallrisiken von Produktionsanlagen zu berechnen. Versicherungsnehmer erhalten frühzeitig einen Hinweis auf mögliche Risiken in den Abläufen und Prozessen. Auf dieser Basis lassen sich zudem dynamische Versicherungstarife anbieten. Je stärker die Vernetzung der Anlagen mit den Systemen der Versicherer dabei ist, desto weitreichendere Services können die Assekuranzen anbieten – die gegebenenfalls bis zum Drosseln oder vollständigen Abschalten der Anlagen reichen.

... Gebäude und Farmen

Ein anderes Beispiel sind Gebäudeversicherungen. Durch Sensoren lassen sich frühzeitig verschiedenste Risikoparameter in Anlagen und innerhalb von Gebäuden messen. Das macht sich das französische FinTech Luko bereits zunutze. Es überwacht Türen, Wasserleitungen und Stromzähler, um letztlich Brände, Überschwemmungen oder auch Einbrüche zu verhindern. Assekuranzen, die einen solchen Ansatz wählten, wären in der Lage, komplette Ökosysteme mit aufzubauen und die Dienstleistungen Dritter in das eigene Leistungsportfolio zu integrieren. Ein weiterer Anwendungsfall ist die Landwirtschaft: Der Klimawandel hinterlässt immer deutlichere Spuren. Der präventive Ansatz ist daher von besonderem Interesse. Die Verknüpfung komplexer Umwelt-, Wetter- und Erntedaten mit KI-Technologien ermöglicht die Entwicklung neuartiger Ernteausfallversicherungen und liefert Hinweise zur Optimierung des jeweiligen landwirtschaftlichen Betriebs.

Versicherungen und Versicherungsnehmer profitieren

Nudging, verknüpft mit dem Präventionsansatz, ist in einigen Sparten keineswegs neu. Krankenversicherungen setzen auf Anreizprogramme, damit ihre Versicherten gesünder leben. Das geschieht in Ansätzen durch Datennutzung in Form von Pay-as-you-live-Angeboten. Benutzer der Züricher Plattform dacadoo können ihre körperliche und geistige Gesundheit, Schlaf- und Ernährungsqualität, Achtsamkeit, körperliche Aktivität sowie Rauch- oder Trinkgewohnheiten erfassen. Aus den Angaben errechnet die Plattform einen Gesundheitsindex, den Krankenversicherer bei ihren Tarifen berücksichtigen können.

Derartige Anreizprogramme lassen sich für Sachversicherungen ebenfalls etablieren. Versicherungsunternehmen können beispielsweise Rabatte gewähren, wenn ihre Kunden bereit sind, noch mehr Daten mit ihnen zu teilen. Diese Daten wiederum können beispielsweise Aufschluss darüber geben, wie spezifische Nutzungs- und Umweltbedingungen konkret auf ein versichertes Gebäude wirken. Daraus ergeben sich mögliche Präventivmaßnahmen, die Versicherer ihren Kunden anbieten können, um nachweisbar schädliche Faktoren zu verringern. Dabei kann es beispielsweise um Regenfälle gehen, Feuchtigkeit oder Erschütterungen, die über kurz oder lang das Gebäude schädigen können.

Im Fall der Brauereien aus dem 16. Jahrhundert würde eine KI das individuelle Risiko errechnen, dass der Betrieb einem Brand zum Opfer fällt. Es ließen sich die wichtigsten Schwachstellen im Betrieb ermitteln und Präventionsmaßnahmen einleiten, die sich an den Ergebnissen von Data-Mining-Prozessen orientieren.

Was den Präventionsgedanken für die Versicherungsnehmer attraktiv macht, ist die Kostenseite. So lassen sich die präventiven Versicherungslösungen weitaus günstiger anbieten als klassische Versicherungsprodukte: Das mögliche Risiko sinkt, das der Versicherer im Fall der Fälle zu schultern hat. Obendrein baut er die Kontakte zum Kunden aus – und das jenseits akuter Krisen. Die Wahrnehmung der Branche wandelt sich mit diesen Ansätzen grundlegend. Die Firmenkunden der Versicherungen können wiederum Produktionsleistungen maximieren und die eigenen Investitionen optimieren, da sie all jene Kosten sparen, die ihnen infolge von Versicherungsfällen entstehen und die nicht durch die jeweilige Prämie gedeckt sind.

Zeit zu handeln

Hätten die Hamburger Brauereien im 16. Jahrhundert eine Möglichkeit gesehen, mit künstlicher Intelligenz ein Feuer in ihren Betrieben vorherzusagen, so hätten sie diese wohl genutzt und nicht auf den Schadensersatz der Versicherung gehofft. Heute können Technologien dabei helfen, solche Feuer vorherzusagen. Höchste Zeit also für die Versicherungen, zu handeln.

Bild: © Tierney – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Kai-Uwe Reiter