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26. Dezember 2021
„Es gilt, das Potenzial der bAV zu entfesseln“

„Es gilt, das Potenzial der bAV zu entfesseln“

Mit 2021 geht ein ereignisreiches Jahr zu Ende: ein zweites Corona-Jahr, ein weiteres Jahr im Niedrigzinsumfeld, ein Bundestagswahljahr. Anlässe genug für eine Art Bestandsaufnahme im Bereich der betrieblichen Altersversorgung und einen Ausblick, welchen Stellenwert die bAV im Vorsorge-Mix künftig einnimmt.

Interview mit Dr. Georg Thurnes, Vorsitzender der aba Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e. V.
Herr Dr. Thurnes, die bAV galt lange als Erfolgsmodell. Nun leidet sie unter Niedrigzinsen, schwächelnden Pensionskassen, Kurzarbeit und Bürokratie. Würden Sie das so unterschreiben?

Es geht doch immer um die Frage nach den Alternativen. Dauerniedrigzins, Bürokratiekosten und geringere verfügbare Einkommen treffen alle Formen der kapitalgedeckten Altersversorgung. Hier hilft die besondere Effizienz, die sich aus dem kollektiven Ansatz der betrieblichen Altersversorgung ergibt. Gegenüber vergleichbaren Formen der Altersversorgung bleibt die bAV daher die bessere Alternative.

Die letzte große gesetzgeberische Änderung war das Betriebsrentenstärkungsgesetz (BRSG). Sind zumindest einige Ziele erreicht worden?

Auf jeden Fall! Wichtig sind natürlich die dort enthaltenen Regelungen zur reinen Beitragszusage, auch wenn sie derzeit noch nicht zur Anwendung kommen. Damit haben wir ein Regelwerk, um das uns die Fachwelt im Ausland beneidet. Die Verbreitung der bAV bei Niedrigverdienern unterstützt der Förderbetrag, den Arbeitgeber erhalten, wenn sie dieser Gruppe eine Zusage erteilen. Die Verpflichtung, bei Entgeltumwandlung einen Arbeitgeberzuschuss zu leisten, sofern Sozialabgabenersparnisse entstehen, macht die bAV für Arbeitnehmer noch attraktiver. Die neuen Nachzahlungsmöglichkeiten und die überarbeitete Vervielfältigungsregelung machen die Dotierung flexi­bler. Von unschätzbarem Wert ist der eingeführte Freibetrag bei der Grundsicherung. Bis auf die Regelungen zum Sozialpartnermodell haben sich schon alle anderen Reformmaß­nahmen positiv ausgewirkt.

Mit welchen neuen Regulierungsvorhaben müssen Sie sich gerade beschäftigen?

Um die alle aufzuzählen, reichen weder Zeit noch Platz dieses Interviews. Die Themen reichen von EbAV-Kostentransparenz über DC Risk Assessment bis hin zu vielen Projekten im Zusammenhang mit ESG. Besonderen Stellenwert werden natürlich die Reviews von IORP II, also der überarbeiteten Pensionsfondsrichtlinie, und dem Betriebsrentenstärkungsgesetz haben. Hier bereiten wir uns schon jetzt vor, um negative Belastungen von der bAV fernzuhalten.

Das Sozialpartnermodell hat sich bisher nicht durchgesetzt. Mittlerweile fehlt der Glaube, dass es dies noch tun wird. Wie wird das bei Ihnen im Verband diskutiert?

Das Wörtchen „bisher“ möchte ich dick unterstreichen! Sie werden sehen, wenn die ersten Modelle genehmigt sind und an den Start gehen, dann kommt Fahrt auf. Durch geänderte Rahmenbedingungen könnte der Prozess beschleunigt werden.

Mit Blick auf die Durchführungswege hat sich insbesondere die Direktversicherung durchgesetzt. Ist diese Entwicklung zu einseitig?

Nimmt man die Deckungsmittel zum Maßstab, so liegt die Direktversicherung nach Direktzusage und Pensionskasse auf Platz 3. Bezieht man sich auf die Zahl der Anwartschaften, so liegt die Direktversicherung auf Platz 1. Betrachtet man die Durchschnittsleistung, so liegt sie auch hinter Direktzusage und Pensionskasse. Auch wenn man sich die Zuwächse der letzten 10 bis 15 Jahre anschaut, wird Ihre These nicht gestützt. Die bAV-Welt ist bunter und differenzierter, und das ist für passgenaue Lösungen auch gut so.

Für 2022 werden mehr Unternehmensinsolvenzen erwartet. Welche Auswirkungen wird dies haben?

Die Pandemie belastet die betriebliche Altersversorgung in allen Bereichen, auch durch Unternehmensinsolvenzen und deren finanzielle Auswirkungen über den Beitrag für den Pensions-Sicherungs-Verein (PSV). 2021 liegt der Beitragssatz beim PSV mit 0,6 ‰ deutlich unter dem langjährigen Mittel von 2,8 ‰. Im Vorjahr lag er noch bei 4,2 ‰. Was 2022 bringt, kann man noch nicht abschätzen.

Die Arbeitswelt ändert sich. Sie wird flexibler, internationaler. Muss sich die bAV komplett neu erfinden?

In Brüssel ruft man immer nach grenzüberschreitenden Angeboten. Die Erfahrung zeigt, dass es gar nicht so viel grenzüberschreitende Mobilität gibt, wie immer angenommen wird. Dort, wo es sie gibt, wirken Steuer- und Sozialversicherungsrecht als Hemmnisse, nicht die bAV an sich. Für mich haben aber die jeweils nationalen Systeme klar Priorität. Und da brauchen wir nichts komplett Neues. Bestehende Systeme müssen wir verbessern bzw. an veränderte Gegebenheiten anpassen.

In Ihrem Verband treffen alle Beteiligten der bAV aufeinander.
Sind denn die Herausforderungen gleichermaßen verteilt – auf Arbeitgeber, Versorgungseinrichtungen, Arbeitnehmer? Oder wo sehen Sie Herausforderungen?

Nehmen wir den Dauerniedrigzins: Zusageformen wie die Beitragszusage mit Mindestleistung werden die meisten Versorgungseinrichtungen für Neuzusagen nicht mehr anbieten können. Arbeitgeber können solche Zusagen dann nicht mehr erteilen. Die in der Vergangenheit eher theoretische Subsidiärhaftung der Arbeitgeber ist realer geworden.

Zudem werden Arbeitgeber mit Direktzusagen durch den überhöhten Rechnungszins beim § 6a Einkommensteuergesetz (EStG) bestraft. Pensionskassen leiden im Niedrigzinsumfeld an einem zu engen regulatorischen Korsett. Aufseiten der Berechtigten leidet die Leistungshöhe bei Zusagen mit Garantien wegen rückläufiger Überschussbeteiligungen. Der Dauertiefzins trifft also alle Beteiligten, wie diese Beispiele zeigen.

Zuletzt gab es einige Urteile zur bAV, unter anderem zum Versorgungsausgleich. Welche Rechtsprechungsfragen beeinflussen aktuell die bAV am meisten?

Regelungen zur bAV gibt es in vielen Rechts­gebieten. Da denkt man natürlich zunächst an das Arbeits- und Steuerrecht. Aber auch Versorgungsausgleich, Sozialversicherungs-, Aufsichts- und Insolvenzrecht, überall ist auch die bAV tangiert. Daher vergeht eigentlich kaum eine Woche ohne wichtige, praxisrelevante Entscheidungen.

Ihr Ausblick: Welchen Stellenwert wird die bAV im Vorsorge-Mix künftig einnehmen?

Die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung bleibt auch auf lange Sicht die Hauptquelle des Alterseinkommens für den Großteil der Bevölkerung. Eine Lebensstandardsicherung wird man über sie aber nicht mehr erreichen können. Es muss also zusätzlich kapitalgedeckt vorgesorgt werden. Und alle internationalen Erfahrungen zeigen, dass dies am besten über kollektive Systeme der betrieblichen Altersversorgung geht. Die Kollektive helfen, Sicherheit zu schaffen und Kosten zu reduzieren. Wenn dann noch die Sozialpartner beteiligt sind, schafft das zusätzliches Vertrauen. Die bAV wird vor diesem Hintergrund eine echte zweite Säule der Alterssicherung und mehr Traglast übernehmen.

Das vollständige Interview lesen Sie auch in AssCompact 12/2021 und in unserem ePaper.

Bild: © Marco2811 – stock.adobe.com

 
Interview mit
Dr. Georg Thurnes