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19. Mai 2025
„New Work nützt allen – aber in ganz unterschiedlicher Weise“
„New Work nützt allen – aber in ganz unterschiedlicher Weise“

„New Work nützt allen – aber in ganz unterschiedlicher Weise“

Welches Fazit zieht der AGV nach den Corona-Jahren und mit Aussicht auf noch größeren Fachkräftemangel beim Thema New Work? Wer profitiert von Home-­Office und Co.? Und gibt es auch Rückschritte oder gar Kritik an der Entwicklung?

Interview mit Betina Kirsch, Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands der Versicherungsunternehmen in Deutschland e. V. (AGV)
Frau Kirsch, beginnen wir mal ganz vorn: Was ist eigentlich unter dem Begriff „New Work“ speziell auf die Versicherungswelt bezogen zu verstehen?

„New Work“ steht für einen tiefgreifenden Wandel in der Arbeitskultur, der von partnerschaftlichem Miteinander und Augenhöhe geprägt ist. Arbeitgeber sind heute viel offener, auf individuelle Lebensbedürfnisse ihrer Mitarbeitenden einzugehen. Ein zentrales Element ist die Flexibilisierung der Arbeitsorte. Home-Office ist längst zur Regel geworden: Beschäftigte in unserer Branche arbeiten im Durchschnitt zwei bis drei Tage pro Woche mobil, in der IT sind sogar oft bis zu fünf Tage möglich. Die hybride Zusammenarbeit von Teams gehört mittlerweile zum Standard. Viele Versicherungsunternehmen bieten in­zwischen sechsmonatige Sabbaticals an, und bei fast 60% der Unternehmen ist Mobilarbeit im Ausland möglich.

Ein wichtiger Aspekt von New Work ist die wertschätzende Führung. In vielen Versicherungsunternehmen ist das Du untereinander inzwischen gelebte Praxis und Ausdruck einer modernen Führungskultur.

Was würden Sie sagen: Wem nützt New Work ganz besonders? Ermöglicht New Work mehr gesellschaftlichen Gruppen die Teilhabe an der Arbeitswelt?

New Work nützt allen – aber in ganz unterschiedlicher Weise. Ganz besonders profitieren Menschen in der sogenannten „Rushhour des Lebens“ – also in Phasen, in denen Beruf, Kindererziehung oder auch die Pflege von Angehörigen unter einen Hut gebracht werden müssen. Das betrifft häufig Frauen, die in vielen Haushalten nach wie vor den Großteil der familiären Verantwortung tragen. Für sie ist Flexibilität kein „Nice-to-have“, sondern eine Voraussetzung, um überhaupt „vollzeitnah“ arbeiten zu können. Flexible Arbeitszeitkorridore und der Wegfall von Pendelzeiten ermöglichen es auch Männern, Kinderbetreuung und Haushalt partnerschaftlich besser mitzutragen.

Zugleich sehen wir, dass ältere Beschäftigte von den neuen Möglichkeiten profitieren – etwa wenn sie nach Renteneintritt weiterarbeiten möchten, aber in geringerem Umfang. Auch für die Generation Z hat New Work klare Vorteile – allerdings mit anderen Schwerpunkten. Während Flexibilität grundsätzlich begrüßt wird, erleben wir bei vielen Jüngeren ein starkes Bedürfnis nach sozialem Austausch und echten Erlebnissen im Büro. Teamtage oder informelle Office-Events werden von ihnen besonders geschätzt. Das zeigt: New Work ist kein One-size-fits-all-Konzept, sondern muss verschiedene Bedürfnisse vereinen.

Natürlich ist New Work auch ein strategischer Hebel für Arbeitgeber. Im Wettbewerb um Talente ermöglicht es, den Radius bei der Personalsuche zu erweitern – weil etwa Pendelzeiten keine Rolle mehr spielen oder Teilzeitkräfte durch flexible Modelle ihre Stunden leicht auf­stocken können.

Funktioniert New Work generell für alle Mitarbeitenden im Unternehmen? Und wie können Arbeitgeber unterschiedlichen Beschäftigtengruppen passgenaue Angebote machen?

New Work lässt sich in der Versicherungswirtschaft fast flächendeckend erfolgreich umsetzen. Nur wenige Bereiche stellen dabei eine Herausforderung dar – etwa Tätigkeiten, die physische Präsenz und feste Servicezeiten erfordern, etwa Empfang oder Kantine. In vielen Unternehmen wird intensiv darüber diskutiert, welche Home-Office-Quote die richtige ist. Dabei gilt: Es gibt nicht die „EINE“ Zahl, die für alle passt. Unternehmen, die auf hohe Flexibilität setzen, überlassen die Entscheidung häufig den Führungskräften und Teams, die gemeinsam eine passende Regelung finden.

New Work birgt jedoch auch das Risiko der „Vereinsamung“, insbesondere wenn Mitarbeitende weit überwiegend im Home-Office arbeiten und generell zurückgezogen leben. Eine Studie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zeigt, dass die Hälfte der Befragten im Home-Office den fehlenden sozialen Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen als belastend empfindet. Um das zu vermeiden, ergreifen Unternehmen mit weitreichenden Home-Office-Quoten gezielt Maßnahmen wie regelmäßige Jour-fixe vor Ort, virtuelle Kaffeepausen oder gemeinsame Präsenz-Fortbildungen, um den sozialen Austausch zu fördern und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.

In welchen Bereichen ist New Work denn besonders herausfordernd? Wo stößt das Konzept an Grenzen – gerade in der Versicherungsbranche?

Studien, unter anderem von MIT und Microsoft, zeigen, wie wichtig der informelle Austausch im Büro für die Verbreitung von Informationen und den sozialen Zusammenhalt ist – besonders mit loseren Kontakten, also Menschen außerhalb des direkten Kernteams. In der Praxis erleben wir, dass dieser Austausch in virtuellen Teams oft leidet: 24% der Beschäftigten bewerten ihn nach unserer AGV Beschäftigtenbefragung als annehmbar oder schlecht, während es bei Teams, die überwiegend im Büro arbeiten, nur 13% sind. Auch was kreative und innovative Arbeitsprozesse betrifft, wird die Zusammenarbeit im hybriden Setting generell kritischer gesehen. Gute Ideen entstehen oft durch gemeinsames Brainstorming face to face – das können virtuelle Formate nicht ersetzen.

Ein weiterer Punkt ist das Erleben von Unternehmenskultur. Kultur entsteht nicht im Home-Office – sie wird im gemeinsamen Miteinander erlebt. Hier besteht noch Luft nach oben: 27% der Beschäftigten aus unserer Befragung bewerten das Erleben der Kultur als annehmbar oder schlecht. Gefragt sind hybride Strukturen mit „Präsenzerlebnis“ und Führungskräfte, denen es gelingt, Flexibilität, Kollaboration, Bindung an das Unternehmen und Leistungsoutput in Einklang zu bringen.

Gibt es eigentlich auch so etwas wie KPIs für New Work? Kann man New Work also überhaupt messen?

New Work lässt sich mittelbar messen, auch wenn es dafür keine klassischen, rein zahlengetriebenen KPIs gibt. New Work ist ein sehr ganzheitliches Konzept, das weit über Arbeitszeiten und Home-Office-Quoten hinausgeht. Es betrifft vor allem „weiche“ Faktoren wie Kultur, Kommunikation und das Erleben von Wertschätzung.

Ein häufig genutztes Instrument ist der Net Promoter Score (NPS), der misst, wie wahrscheinlich es ist, dass Mitarbeitende ihren Arbeitgeber weiterempfehlen würden. Ein hoher NPS signalisiert eine starke Identifikation mit dem Unternehmen. Viele Unternehmen führen regelmäßige Mitarbeitendenbefragungen durch, in denen sie gezielt nach dem Erleben von Unternehmenskultur, Führung, Zusammenarbeit und New-Work-Erfahrungen fragen. Diese Umfragen liefern wertvolle Erkenntnisse – und dienen gewissermaßen als „Kulturbarometer“. Auch Plattformen wie kununu liefern indirekte Hinweise: Im aktuellen Branchenvergleich belegt die Versicherungswirtschaft Platz 4 – ein starkes Zeichen dafür, dass die Branche insgesamt als attraktive Arbeitgeberin wahrgenommen wird.

Beobachten Sie denn auch eine Gegenbewegung zum New-Work-Trend? Stichwort: verpflichtende Rückkehr ins Büro oder sogar eine 6-Tage-Woche?

Was wir aktuell sehen, ist keine Gegenbewegung, aber durchaus eine neue Nachdenklichkeit – vor allem aufseiten der Unternehmensleitungen, wenn in der Presse wieder zu lesen ist, dass namhafte Konzerne ihre Home-Office-Quoten zurückfahren. Führungskräfte äußern teilweise eine gewisse Skepsis, was die Produktivität im Home-Office angeht. Hier geht es selten um operative Bereiche, in denen sich Leistung gut messen lässt, sondern eher um projektbezogenes Arbeiten in Stabsabteilungen.

Gleichzeitig erleben wir, dass niemand ernsthaft die vollständige Rückkehr zur 100%-Präsenzpflicht fordert – allein schon, weil viele Häuser nur noch für 70% der Beschäftigten Bürokapazität vorhalten. Zudem steht Vertrauen auf dem Spiel. New Work ist längst Teil der gelebten Unternehmenskultur – das lässt sich nicht einfach zurückdrehen. Was wir aber beobachten, ist eine leichte Korrektur der extremen Flexibilisierung, wie wir sie in der unmittelbaren Post-Corona-Zeit erlebt haben. Das Pendel war stark in Richtung Mitarbeitende ausgeschlagen – mit sehr großzügiger Mobilarbeit. Jetzt – angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheiten und einer verbesserten Recruiting-Situation – bewegt sich das Pendel etwas zurück zur Mitte. Unternehmen schauen wieder genauer hin: Wie sichern wir Innovation, Kollaboration und Zusammenhalt?

Welche Kritik am New-Work-Trend halten Sie persönlich für berechtigt? Wo sehen Sie Herausforderungen, die man nicht ausblenden darf?

New Work darf nicht als Einbahnstraße in Richtung Selbstoptimierung der Beschäftigten verstanden werden. Zunehmend ist ein Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der Arbeitgeber und dem veränderten Selbstverständnis vieler Mitarbeitender zu beobachten. Während sich Unternehmen – auch in der Versicherungsbranche – angesichts des Fachkräftemangels und des Wettbewerbs nach mehr Leistungsbereitschaft sehnen, bleiben aufseiten der Beschäftigten Themen wie Selbstverwirklichung oder gar die 4-Tage-Woche weiter im Trend. Aus Sicht der Beschäftigten ist das nachvollziehbar, dennoch muss man berücksichtigen, dass Leistung und Wohlstand eng miteinander verknüpft sind. In Deutschland arbeiten wir ohnehin weniger als im EU-Durchschnitt: 2023 lag die durchschnittliche Arbeitszeit hierzulande bei 34,4 Stunden pro Woche, während der EU-Durchschnitt bei 36,9 Stunden lag.

Zudem dürfen wir die Schattenseite der Selbstverantwortung nicht unterschätzen. Wenn Mitarbeitende permanent das Gefühl haben, sich selbst organisieren, optimieren und im Job verwirklichen zu müssen, kann das manche auch überfordern. Hier sind Führungskräfte gefragt, Orientierung zu geben und Überforderung früh zu erkennen.

Wohin könnte die Reise mit New Work noch gehen? Und was kommt nach New Work?

Ich glaube, wir stehen an einem Punkt, an dem New Work sich von einem Trend zu einem Fundament der Arbeitswelt entwickelt hat. Die spannende Frage ist, wie es sich weiterentwickelt. Ein entscheidender Treiber der Fortentwicklung von New Work ist der demografische Wandel. Wenn der durchschnittliche Renteneintritt bei 64 Jahren bleibt, wird in den kommenden Jahren etwa ein Drittel der Belegschaften in der Versicherungswirtschaft altersbedingt ausscheiden. Das ist eine enorme Herausforderung und wird den Fachkräftemangel weiter verschärfen. Diese Entwicklung treibt als Next Step den Übergang in eine „techno-soziale Arbeitswelt“. Künstliche Intelligenz ist dann nicht nur Tool, sondern echter Partner im Arbeitsprozess. Das hat großes Potenzial, um dem Fachkräftemangel zumindest teilweise entgegenzuwirken – und eröffnet gleichzeitig neue Anforderungen an Führung, Zusammenarbeit und Qualifikation. Dabei werden KI-Empowerment und Upskilling eine zentrale Rolle spielen: Beschäftigte müssen lernen, mit KI-Systemen zu arbeiten, sie zu verstehen, zu steuern und kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig wird es gerade bei Führung besonders stark auf soziale Kompetenzen ankommen – insbesondere darauf, Menschen im Veränderungsprozess zu begeistern und mitzunehmen.

Mein Fazit zur Post-New-Work-Ära: Die Arbeitswelt wird technischer, schneller, datenbasierter – bleibt jedoch auf Menschen angewiesen, die Technologien kompetent nutzen und Veränderungsprozesse aktiv und positiv begleiten.

Lesen Sie auch: New Work: Was ist wirklich möglich in der Branche?

Diesen Beitrag lesen Sie auch in AssCompact 05/2025 und in unserem ePaper.

 
Ein Interview mit
Betina Kirsch