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20. September 2022
Bye bye, Boris! Welche Chancen bietet der britische Kapitalmarkt?

Bye bye, Boris! Welche Chancen bietet der britische Kapitalmarkt?

Mit dem Rücktritt von Boris Johnson und der Entscheidung über seine Nachfolge wurden die Karten für den britischen Aktienmarkt neu gemischt. Wie groß das Potenzial für ein Comeback britischer Vermögenswerte ist, erläuterte Chris Iggo noch vor der Ernennung von Liz Truss zur neuen Premierministerin in einem Gastbeitrag.

Ein Artikel von Chris Iggo, CIO Core Investments bei AXA IM

Die Wirtschaft Großbritanniens hatte es in den vergangenen Jahren nicht leicht. Neben Corona-Pandemie, Energiekrise und explodierter Inflation (zuletzt 9,4%) – alles Belastungsfaktoren, mit denen sich auch viele andere europäische Volkswirtschaften auseinandersetzen mussten oder noch immer müssen – kommen beim Vereinigten Königreich noch der Brexit und seine Folgen hinzu. Das Land ist zerrissen. In verschiedenen Bereichen herrscht Arbeitskräftemangel und die Abkoppelung von der Europäischen Union ist für britische Firmen noch immer mit höheren Bürokratiekosten sowie erheblichen Zeitverlusten bei der Ein- und Ausfuhr von Waren verbunden. Keineswegs hilfreich ist es da, dass sich das Verhältnis zur EU in den vergangenen Monaten noch weiter verschlechtert hat.

Rückkehr ausgeschlossen

So war von vielen Betroffenen dies- und jenseits des Ärmelkanals lautes Aufatmen zu vernehmen, als Boris Johnson nach diversen Skandalen Anfang Juli als Vorsitzender der Konservativen Partei und als Premierminister endlich seinen Rücktritt erklärt hat. Ein Zurückdrehen der Geschichte wird es dennoch nicht geben. Auch ein neuer Vorsitzender wird keinesfalls auf Kuschelkurs mit der EU gehen, und selbst die Opposition hat eine mögliche Wiederannäherung an die ehemaligen Weggefährten inzwischen ad acta gelegt. Dennoch könnte es mit dem Abgang Johnsons zu erheblichen Veränderungen für die britische Wirtschaft kommen. Nicht unerhebliche Bedeutung kommt dabei der Wahl des zukünftigen Regierungschefs bzw. der Regierungschefin zu.

Steuersenkungen im Mittelpunkt des Wahlkampfs

Noch im Rennen um den Parteivorsitz der Torys und damit auch das Amt des Premierministers sind die Außenministerin Liz Truss und der ehemalige Schatzkanzler Rishi Sunak. Zwischen ihnen werden sich rund 160.000 Parteimitglieder der Konservativen entscheiden. Dabei dreht sich die Diskussion zwischen den beiden Kandidaten in erster Linie um den Zeitpunkt und das Ausmaß etwaiger Steuersenkungen. Auf den ersten Blick sind die Versprechungen von Truss eher unverantwortlich, da sich die Haushaltsaussichten verschlechtern und den bestehenden Inflationsdruck verstärken würden. Dies hätte höhere Zinssätze als derzeit erwartet zur Folge, was wiederum die Sorgen um die Nachhaltigkeit des Wachstums verstärken und sich negativ auf den britischen Aktienmarkt auswirken würde. Ihre Wahl erhöht auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Konservativen die nächsten Parlamentswahlen verlieren könnten, was zu politischer Unsicherheit führen würde. Truss‘ bisherige Haltung gegenüber Europa lässt zudem keine intensivere Befassung mit den Mängeln des Brexit in Bezug auf Handel und Freizügigkeit erwarten.

Hoffen auf fiskalische Stabilität

Sunak befürwortet dagegen eine eher konservative Finanzpolitik und hat versprochen, der Reduzierung der Inflation und der Kreditaufnahme Vorrang vor Steuersenkungen einzuräumen. Seine Erfahrung als Finanzminister dürfte auch dazu führen, dass Anleger mit seinen Wirtschaftsplänen eher einverstanden sind.

Die Labour-Partei spielt derzeit ein vorsichtiges Spiel. Sie weist insbesondere auf die hohe Bedeutung hin, die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten in den Griff zu bekommen und die Staatsverschuldung unter Kontrolle zu halten. Wie üblich liegt ihr Schwerpunkt bei höheren Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen, die jedoch gegenfinanziert werden müssten. Von Versprechungen, bestimmte öffentliche Dienstleistungen zu verstaatlichen, hat sich die Parteiführung zurückgezogen. Labour-Chef und ehemals entschiedener Brexit-Gegner Keir Starmer hat zwar gerade erst verkündet, dass für die Briten kein Weg in den EU-Binnenmarkt oder in die Zollunion zurückführe, von ihm wäre aber wohl die konstruktivste Haltung bezüglich eines vernünftigen Zusammenlebens mit der EU zu erwarten.

Attraktive Bewertungsparameter

Für den britischen Aktienmarkt wäre eine stabile Regierung mit einer klaren Agenda, die einen starken Anstieg der Zinssätze verhindern würde, sicherlich das beste Ergebnis. Dies wäre am ehesten mit einer Tory-Regierung unter Sunak oder unter einer Labour-Regierung mit einer versöhnlicheren Haltung gegenüber der EU gegeben, wobei Letzteres derzeit allerdings nicht zur Diskussion steht. Steigende Aktienkurse und ein stärkeres Pfund könnten in diesem Fall die Folge sein.

Der britische Aktienmarkt ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von lediglich 9,9 (FTSE 350) im internationalen Vergleich relativ günstig bewertet. Mit 10,3 bzw. 10,6 fallen die entsprechenden Werte beim DAX und dem französischen Leitindex CAC40 etwas höher aus. Der US-amerikanische S&P 500 bewegt sich mit einem KGV von 16 in einer gänzlich anderen Region. Die Dividendenrendite, die für Käufer britischer Unternehmensanteile von jeher eine bedeutende Rolle spielt, liegt aktuell bei 3,9% verglichen mit 3,5% beim DAX und 3% beim CAC40. Das Gewinnwachstum wird für die nächsten zwölf Monate mit 8% prognostiziert, was mit anderen europäischen Märkten vergleichbar ist. Aufgrund der befürchteten Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ist diese Erwartung allerdings mit erheblichen Abwärtsrisiken behaftet. Auch das britische Pfund ist mit Kursen um die 1,20 US-Dollar günstig bewertet.

Katalysator voraus?

Noch ist die Stimmung gegenüber risikoreichen Anlagen auf der Insel recht verhalten. Die tiefe Spaltung der Bevölkerung insgesamt und der Conservative Party im Besonderen könnte zu einer weiteren Verschärfung der Lage führen. Die Wirtschaft des Landes ist an sich aber keineswegs schlecht aufgestellt. Großbritannien verfügt über weltweit führende Unternehmen, eine robuste Finanzdienstleistungsbranche und gut ausgebildete Arbeitskräfte.

Was derzeit fehlt, ist ein Katalysator, der eine positive Entwicklung auslöst und zu einem nachhaltigen Stimmungsumschwung führt. Das Herauskristallisieren einer pragmatischen Regierung, die sich tatsächlich auf die langfristigen wirtschaftlichen Belange des Landes konzentriert und einige der mit dem Brexit verbundenen Probleme angeht, die sich seit 2018 negativ auf die Wirtschaft ausgewirkt haben, könnte diesbezüglich das auslösende Moment sein. Gelingt es der Politik, das vorhandene Potenzial freizusetzen, sollten sich Anlegern am britischen Aktienmarkt zukünftig gute Chancen bieten.

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 09/2022, S. 60 f., und in unserem ePaper.

Bild: © andy – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Chris Iggo