Ein Beitrag von Gerald Mützel, Nachfolgeberater bei MÜTZEL BSV, ehem. Inhaber und Vorstand der MÜTZEL Versicherungsmakler AG
Ich hatte mein Maklerunternehmen verkauft. Der Vertrag war unterschrieben, das Konto gefüllt, die Verantwortung übergeben. Alles, was ich über viele Jahre hin aufgebaut hatte, weg, aber es fühlte sich auch gut an. Ja – befreiend?
Aber dann kam etwas, womit ich nicht gerechnet hatte – zumindest nicht in dieser Wucht: Der Terminkalender war plötzlich leer. Keine Kundentermine. Kein Jour fixe mit dem Team. Kein Montagmorgen-Kickoff. Kein „Ich schau später noch mal drauf“. Stattdessen: Zeit. Viel davon.
Zeit haben – klingt wunderbar. Ist es das auch?
In den ersten Tagen fühlte es sich an wie Urlaub. Endlich ausschlafen. In Ruhe Kaffee trinken. Spazieren gehen ohne Zeitdruck. Alte Freunde treffen. Ein Buch lesen. Doch nach zwei, drei Wochen drehte sich das Gefühl:
- Was fange ich mit meiner Zeit an?
- Was gibt mir jetzt Struktur?
- Was ist mein neues Ziel?
Ich merkte: Der Alltag war nicht mehr von außen getaktet. Er gehörte nun ganz mir. Und das, was jahrelang als Traum erschien – „endlich Zeit für mich“ – wurde zur offenen Frage: „Was will ich eigentlich mit dieser Zeit anfangen?“
Die unterschätzte Leere nach dem Loslassen
Der Verkauf meines Unternehmens war ein großer Schritt – aber niemand hatte mich auf die Zeit danach vorbereitet. Es gab keine Übergabe-Checkliste für meine Gedanken, keine Projektplanung für mein neues Leben. Und genau das war die Herausforderung.
Denn mein Terminkalender war nicht nur leer – er war auch leer von Sinn.
Ich war nicht mehr gebraucht. Zumindest nicht in der alten Rolle. Kein „Chef, was meinst du?“, kein Kundenanruf mit dringenden Fragen, keine Verantwortung, die mich morgens aus dem Bett gezogen hätte.
Und das war, obwohl ich freiwillig und bei bester Gesundheit verkauft hatte.
Zeit ist ein Geschenk – aber nur, wenn man sie füllt.
Ich musste lernen: Zeit allein macht nicht glücklich. Struktur schon eher. Sinn auf jeden Fall.
Also begann ich, mir neue Routinen zu bauen:
- Feste Zeiten für Bewegung – nicht weil ich musste, sondern weil ich konnte.
- Neue Projekte – viele kleine Projekte am Haus, die viele Jahre liegen geblieben sind.
- Weitergeben statt stillstehen – ich begann, mein Wissen mit jungen Maklern zu teilen.
- Reisen, aber mit Sinn – nicht einfach „weg“, sondern bewusst Neues entdecken.
- Und vor allem: Geduld mit mir selbst.
Ich erkannte: Der Mensch wächst nicht nur an Verantwortung, sondern auch am bewussten Verzicht auf sie. Und: Nichtstun will gelernt sein.
Vorsicht vor der Sinnfalle: Rückfall in alte Muster
Ich kenne viele Unternehmer, die sich nach dem Verkauf wieder in neue Aufgaben stürzen. Ein neues Start-up gründen. Wieder in die Branche einsteigen. Sich in 1.000 Dinge einmischen. Auch ich war gefangen von neuen Ideen.
Aber oft ist das nur ein Versuch, die innere Leere zu übertönen, statt sie anzusehen. Ich habe stattdessen gelernt: Nicht alles, was Ruhe bringt, ist Stillstand. Und nicht alles, was beschäftigt, ist sinnvoll.
Was mir geholfen hat, den neuen Alltag zu gestalten
- Selbstverantwortung neu denken: Ich bin niemandem mehr verpflichtet – außer mir selbst.
- Den Tag nicht verplanen, sondern gestalten: Was will ich heute wirklich tun?
- Kontakte pflegen: Freundschaften wieder aufleben lassen, ohne geschäftlichen Hintergrund.
- Wünsche ernst nehmen: Auch kleine Träume bewusst umsetzen – nicht irgendwann, sondern jetzt.
- Neues lernen: Ein Musikinstrument, ein neues Fachgebiet, eine Sprache.
Und vor allem: Ich habe mir erlaubt, kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich mal nichts tue.
Fazit: Ein leerer Kalender ist kein Problem – sondern eine Einladung
Der Tag nach dem Verkauf fühlt sich manchmal an wie der erste Tag nach dem Abi: Die Tür ist offen, aber der Weg ist unklar. Und genau darin liegt die große Freiheit – und die große Verantwortung.
Ich habe gelernt: Nicht die Termine machen unser Leben aus, sondern
was wir mit der Zeit dazwischen anfangen. Der Kalender darf leer sein. Solange das Herz voll ist.
Fortsetzung folgt
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe aus insgesamt fünf Artikeln zum Thema Unternehmensnachfolge und -verkauf. Im vierten Artikel der Reihe geht es um „den Abschied vom Ich“: Warum viele Makler den Unternehmensverkauf hinausschieben – und was wirklich dahintersteckt.
Bisherige Texte:
- Vom Unternehmer zum Übergeber: Der emotionale Wert des Verkaufs
- Verkaufen oder doch noch warten – die schwierigste Entscheidung

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