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5. März 2024
Risiko höher, dass „EZB die Zinsen zu spät als zu früh senkt“

Risiko höher, dass „EZB die Zinsen zu spät als zu früh senkt“

Der nächste Leitzinsentscheid der Europäischen Zentralbank steht bevor. Eine überraschende erste Zinssenkung wird es wohl nicht geben, dennoch bleiben das aktuelle Zinsumfeld und die Lage am Kapitalmarkt spannend. Shaan Raithatha von Vanguard gibt für AssCompact eine Einschätzung ab.

Interview mit Shaan Raithatha, Senior Economist bei Vanguard Europe
Herr Raithatha, die nächste Zinsentscheidung der Europäischen Zentralbank steht an. Auch wenn wir nicht mit einer überraschenden Zinssenkung rechnen: Welche Botschaft sollte die EZB am 7. März aussenden?

Die Europäische Zentralbank wird eine Botschaft senden, die im Einklang mit dem steht, was die wichtigsten EZB-Ratsmitglieder in den letzten Wochen signalisiert haben. Das heißt, sie sind mit dem bisherigen Inflationsrückgang zufrieden, sie sind zunehmend davon überzeugt, dass der Inflationsschock größtenteils angebotsgetrieben war, und sehen wenig Anzeichen für Zweitrundeneffekte. Allerdings wollen sie sich ausreichend Zeit nehmen, um die anstehenden Inflations- und Lohndaten zu bewerten, bevor sie sich zu Zinssenkungen verpflichten. Wir erwarten, dass die Inflationsprognosen der EZB nach unten korrigiert und die Wachstumsaussichten kaum verändert werden. Hinweise auf Zinssenkungen im Sommer sind möglich, sollten die Daten des ersten Quartals den Erwartungen entsprechen.

Die Frage nach dem „Wann“ bleibt natürlich trotzdem. In welchem Zeitrahmen sehen Sie den ersten Zinsschritt nach unten?

Wir denken, dass die EZB im Juni mit Zinssenkungen beginnen wird. Der EZB-Rat wird dann genügend Zeit gehabt haben, um die Inflations- und Lohndaten für das erste Quartal zu bewerten und den Märkten eine entsprechende Orientierung zu geben. Anschließend erwarten wir für die verbleibenden Sitzungen im Jahr 2024 eine Zinssenkung um jeweils 25 Basispunkte, sodass der Zinssatz für die Einlagefazilität der EZB Ende des Jahres bei 2,75% liegen würde.

Direkt gefragt: Würde die EZB das Richtige tun? Zinsänderungen bergen immer das Risiko einer Rezession oder – bei einer zu frühen Senkung – eines möglichen Wiederauflebens der Inflation.

Es ist tatsächlich ein schmaler Grat zu einer sanften Landung. Wir glauben, dass die Risiken jetzt eher darin bestehen, dass die EZB die Zinsen zu spät als zu früh senkt, da die Inflationsrate in den letzten Monaten zwar stark gesunken ist – das Wachstum aber immer noch schwach ist. Dieses Risiko könnte sich realisieren, wenn die EZB aufgrund von Bedenken bezüglich der Stärke des Euro im Gleichschritt mit der Fed handeln will. Auf die Fed zu warten, wäre unserer Ansicht nach ein Fehler.

Die EZB meldete kürzlich ihren ersten Verlust seit 20 Jahren – teilweise aufgrund der Zinserhöhungen. Was bedeutet das konkret für die EZB selbst?

Das wird keine Rolle spielen. Die EZB kann unabhängig von Verlusten effizient arbeiten und ihren Auftrag zur Wahrung der Preisstabilität erfüllen – zumal sie mit den jährlichen Gewinnen zwischen 2005 und 2021 erhebliche Kapitalpuffer aufgebaut hat. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine nennenswerten politischen Auswirkungen.

Der Aktienmarkt befindet sich derzeit im Höhenflug – wahrscheinlich auch wegen der erwarteten Zinssenkung. Ist dies gerechtfertigt?

Obwohl die Erwartung sinkender Zinsen den Aktienmarkt stützt, ist zu erwarten, dass sich die Zinsen auf einem höheren Niveau stabilisieren werden, als wir es vor der Covid-19-Pandemie gewohnt waren. Nullzinsen gibt es nicht mehr. Ein höheres Zinsumfeld ist vorprogrammiert. Vor diesem Hintergrund halten wir die globalen Aktienmärkte nach wie vor für relativ überbewertet und die Risikoprämie für Aktien gegenüber Anleihen für gering. Dies gilt insbesondere für die Vereinigten Staaten, wo die Aktienkurse das Gewinnwachstum in den letzten Jahren deutlich übertroffen haben. Wir sehen einen besseren relativen Wert außerhalb der Vereinigten Staaten.

Worauf sollten Berater und Anleger im Hinblick auf die Zinsentwicklung und die aktuelle Marktsituation achten?

Vanguard sagt seit über einem Jahr, dass eine Rückkehr zu „solider Geldpolitik“ im Gange ist. Damit meinen wir, dass die Realzinsen weiterhin positiv sind. Dies bietet eine solide Grundlage für langfristige risikobereinigte Renditen. Im Gegensatz zum letzten Jahrzehnt erwarten wir, dass die Renditeergebnisse für diversifizierte Anleger ausgewogener sein werden. Für diejenigen mit einer angemessenen Risikotoleranz kann eine defensivere Risikoposition angesichts höherer erwarteter Renditen bei festverzinslichen Wertpapieren und einem Aktienmarkt, der die Auswirkungen der strukturell höheren Realzinsen noch nicht vollständig widerspiegelt, sinnvoll sein.

 
Ein Interview mit
Shaan Raithatha