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12. Februar 2021
BU-Modelle: Rechtssicherheit aus Kundensicht ist entscheidend

BU-Modelle: Rechtssicherheit aus Kundensicht ist entscheidend

Die Vielfalt am Markt der Arbeitskraftabsicherung wächst. Mit der Weiterentwicklung von BU- und Grundfähigkeitsversicherung steigen Beratungsanforderungen. Wird die Corona-Pandemie Folgen für diesen Bereich haben? Interview mit Dr. Jörg Schulz, geschäftsführender Gesellschafter der infinma GmbH.

Herr Dr. Schulz, wie bewerten Sie die Lage am Markt der Arbeitskraft­absicherungen? Gibt es mit BU-Ver­sicherung, Grundfähigkeitsschutz, Dread Disease und Unfallversicherung ausreichend Schutz aus Kundensicht?

Die Frage lässt sich ganz eindeutig mit Jein beantworten. Wenn man noch die Erwerbsunfähigkeitsversicherung (EU) hinzunimmt, dann stehen im Prinzip fünf verschiedene Absicherungsmodelle zur Verfügung. Allerdings ist eine solche pauschale Betrachtung wenig zielführend. Für viele Berufsgruppen ist die BU schlicht zu teuer, die EU ist eher eine Worst-Case-Absicherung; erschwerend hinzu kommen die Gesundheitsfragen, die den Zugang zu einer adäquaten Absicherung für viele Kunden behindern.

Vor allem rückt die Grundfähigkeitsversicherung immer mehr ins Rampenlicht. Startet hier gerade, ähnlich wie eine Zeit lang in der BU-Versicherung, eine Art von Bedingungswettbewerb?

Ja, unser Analystenteam bei infinma konnte feststellen, dass einerseits die Zahl der Anbieter in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist. Parallel dazu hat auch die Anzahl der versicherten Grundfähigkeiten zugenommen. Zudem könnte durchaus der Eindruck entstehen, dass bei einigen der neu hinzugekommene Leistungsauslöser vor allem die Marketingabteilungen bei den Versicherern am Werk waren. Mittlerweile überschneiden sich die Grundfähig­keiten zum Teil wie beispielsweise „Greifen“ versus „Hände gebrauchen“.

Es stellt sich aber auch die Frage nach dem tatsächlichen Mehrwert einiger neuer abgesicherter Grundfähigkeiten. Sicherlich ist der Verlust der Fahrerlaubnis für einen Pkw für die betroffenen Menschen ein schmerzlicher Einschnitt. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht in den meisten Fällen auch eine andere, ohnehin bereits versicherte Grundfähigkeit zu dieser Leistung hätte führen können. Man denke beispielsweise an den Verlust der Sehfähigkeit, die erhebliche Einschränkung motorischer Fähigkeiten, aber auch psychische Erkrankungen, die ja unter Umständen in der Grundfähigkeitsversicherung auch abgedeckt sind.

Folglich sind die Tarife ziemlich schwer vergleichbar?

Die Produktlandschaft in der Grundfähigkeitsversicherung bzw. die Definition der einzelnen Leistungsauslöser hat in der Tat eine hohe Komplexität erreicht, die den Vergleich der Tarife sehr schwer macht. Alleine für den Gebrauch der Hand konnten wir bei einer Untersuchung im Oktober 2020 mehr als 30 verschiedene Definitionen in den Bedingungen finden. Diese beruhen zum Teil auf sehr unterschiedlichen Annahmen und können ziemlich speziell sein. Eine Schraube einer bestimmten Größe in einen Dübel zu drehen, ist vermutlich für einen Handwerker leichter als für einen Büroangestellten. Demgegenüber ist das Öffnen einer Flasche eine sehr allgemeine Definition, die auf den ersten Blick keine bestimmte Berufsgruppe bevorzugt.

Müssen denn die Tarife berufs­spezifischer werden?

Für die Grundfähigkeitsversicherung können wir davon nur dringend abraten. Der Vorteil dieser Absicherung ist ja gerade, dass nicht ein bestimmtes Berufsbild versichert ist und damit einer der wesentlichen Kritikpunkte an der BU entfällt.

Gerade über das Erreichen des erforderlichen BU-Grades von mindestens 50% gibt es im Leistungsfall häufig unterschiedliche Auffassungen zwischen Versicherer und Versichertem. Wenn nun die Grundfähigkeitstarife berufsspezifischer werden, was immer das in der Praxis auch bedeuten mag, dann stößt man möglicherweise sehr schnell an Grenzen. Insofern kann eine derartige Ausgestaltung allenfalls in bestimmten Fällen sinnvoll sein, beispielsweise beim Verlust der Fahrerlaubnis für Busse und Lkw, der ja aus anderen Gründen als beim Pkw eintreten kann. Erste Ansätze zu Berufskonzepten, etwa das Tragen einer Atemmaske bei Feuerwehrleuten, zeigt bereits die Problematik. Die Verknüpfung der Grundfähigkeit – also hier das Tragen der Atemschutzmaske – mit dem konkreten Beruf – hier der des Feuerwehrmanns – schließt andere Berufsgruppen zwangsläufig vom Schutz aus, zum Beispiel wären das Mitarbeiter im Katastrophenschutz oder etwa auch Angestellte in Forschungslaboren.

Sie selbst haben Marktstandards herausgearbeitet. Die können wir nicht alle aufzählen, aber was halten Sie für besonders wichtig?

Unabhängig davon, welches Absicherungsmodell bewertet wird – wir werden im ersten Quartal dieses Jahres auch erstmals Marktstandards für die Risikoversicherung und die Grundfähigkeitsversicherung veröffentlichen –, sollten diese Branchendurchschnittswerte vor allem auf die Rechtssicherheit aus Kundensicht abzielen. Dazu gehört beispielsweise ein möglichst kurzer Prognosezeitraum, der Verzicht auf Meldefristen bei der Beantragung der Leistungen, aber auch der Verzicht auf Meldepflichten bei Verbesserung des Gesundheitszustandes, Minderung der Berufsunfähigkeit oder Wieder­aufnahme einer beruflichen Tätigkeit. In der BU spielen abhängig von der jeweiligen Zielgruppe sicher auch die Regelungen zur Umorganisation des Arbeitsplatzes eine gewisse Rolle.

Was halten Sie denn von der Kombination einer betrieblichen Altersversorgung mit einer Grundfähigkeitsversicherung?

Mit Schreiben vom 19.02.2019 hat das Bundesfinanzministerium die Absicherung von Grundfähigkeiten als steuerlich zulässig im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung (bAV) erklärt.

Die Grundfähigkeitsversicherung in der bAV kann vor allem für Unternehmen interessant sein, die viele Mitarbeiter beschäftigen, die bei der Ausübung ihrer Tätigkeit auf ihre Grundfähigkeiten angewiesen sind. Das gilt naturgemäß in besonderem Maße für die Berufsgruppen, die einen hohen Anteil körperlicher Tätigkeit haben. Gegen-über einer BU dürfte die Möglichkeit, den Mitarbeitern eine preisgünstige Absicherung gegen Invalidität anzubieten, größer sein. Möglicherweise sind auch die Zugangsvoraussetzungen – sprich die Gesundheitsprüfungen – einfacher.

In der BU-Versicherung wird hie und da auch noch an der Bedingungsschraube gedreht. Uns scheint, es geht neben den Zielgruppen aktuell vor allem um die Nachversicherungsgarantie. Wie wichtig ist das Thema?

Grundsätzlich sind Nachversicherungsmöglichkeiten für die Kunden wichtig, denn sie ermöglichen in aller Regel die Erhöhung des Versicherungsschutzes ohne erneute Gesundheitsprüfung. Es kann also quasi der Gesundheitszustand bei Abschluss der Versicherung „eingefroren“ werden.

Allerdings sollte bei dem Thema immer berücksichtigt werden, dass die Ausübung der Nachversicherung bei allen Anbietern von teilweise sehr restriktiven Voraussetzungen abhängt. Grundsätzlich darf eine bestimmte Gesamthöhe der BU-Rente nicht überschritten werden, und diese muss in einer angemessenen Relation zum Brutto- oder Nettoeinkommen stehen. Auch die einzelne Erhöhung ist meist nach oben beschränkt, zum Beispiel auf 600 Euro oder vielleicht auch mal 1.200 Euro.

Eine andere Limitierung ist, dass eine Nachversicherung nur bei bestimmten Anlässen möglich ist. Wie sieht es hier aus?

Von Vorteil ist es auf jeden Fall, wenn eine Nachversicherungsmöglichkeit auch ohne besonderen Anlass besteht. Bei der anlassbezogenen Nachversicherung sehen wir in der Tat inzwischen eine Art Wettbewerb um die Anzahl der optionsauslösenden Ereignisse. Das führt dann zum Teil zu kuriosen Ergebnissen, wenn der eine Versicherer aus Adoption und Geburt ein Ereignis macht, und der andere Versicherer damit wirbt, dass es zwei Ereignisse gibt.

Tendenziell sind Nachversicherungsmöglichkeiten umso wichtiger, je geringer die Absicherungshöhe bei Vertragsabschluss ist. Wer in der Lage ist, schon zu Beginn der Versicherung eine adäquate BU-Rente abzu­sichern, der wird nur relativ wenig Nachversicherungsmöglichkeiten brauchen; vorausgesetzt, die Höhe der bereits abgeschlossenen Rente lässt überhaupt noch eine Erhöhung zu.

Das zeigt schon eine gewisse Komplexität. Worauf gilt es denn noch besonders zu achten?

Neben den oben bereits ausführlich beschriebenen Aspekten spielt es natürlich auch eine Rolle, zu welchen Rechnungsgrundlagen die Erhöhung durchgeführt wird. Dies kann in der Praxis sehr unterschiedlich gestaltet sein und möglicherweise auch bei mehreren Erhöhungen verschieden gehandhabt werden. Das könnte dann zum Beispiel so aussehen, dass eine Erhöhung bis zu einer bestimmten Summe nach den ursprünglichen Rechnungsgrundlagen vorgenommen wird, bei darüber hinausgehenden Erhöhungen greifen dann die Rechnungsgrundlagen für Neuverträge.

Es geht hier auch um die Entscheidung, ob auf eine Gesundheits- oder eine Risikoprüfung verzichtet wird. Was ist hier das genaue Thema?

Hier spielen zwei Aspekte eine Rolle: Müssen erneut Gesundheitsfragen beantwortet werden? Das könnte nachteilig sein, da sich der Gesundheitszustand eines Menschen mit fortschreitendem Alter tendenziell eher verschlechtert. Nicht zu verwechseln ist dies jedoch mit der Risikoprüfung im Hinblick auf finanzielle Angemessenheit des BU-Schutzes. Diese Prüfung wird in der Regel grundsätzlich vorgenommen, entfällt also auch bei der Nachversicherung nicht.

Was läuft denn gerade ansonsten richtig gut auf Bedingungsseite? Und was läuft schlecht?

Grundsätzlich muss man festhalten, dass die Bedingungen in der BU inzwischen in der Breite eine recht hohe Qualität erreicht haben. Gleichwohl gibt es immer noch große Unterschiede zwischen den einzelnen Anbietern. Diese sind jedoch erstens immer schwerer zu erkennen und zweitens für unterschiedliche Zielgruppen unterschiedlich relevant.

Sehr positiv sehen wir einige Bestrebungen im Bereich der Um­organisation des Arbeitsplatzes bei Selbstständigen. So verzichten einige Anbieter inzwischen bei einer bestimmten Betriebsgröße grundsätzlich auf die Prüfung der Um­organisationsmöglichkeit. Auch die zunehmende Verbreitung einer Verlängerungsmöglichkeit ist durchaus zu begrüßen.

Bei anderen Entwicklungen, beispielsweise der Teilzeitklausel, erschließt sich bei einigen Formulierungen nicht unbedingt der Nutzen bzw. der Sinn. Was hat der Kunde beispielsweise davon, wenn eine Teilzeitklausel nur innerhalb der ersten zwölf Monate nach dem Wechsel in die Teilzeittätigkeit greift?

Erwarten Sie, dass das Coronavirus bzw. Covid-19 mittel- oder langfristig einen Einfluss auf die Absicherungsmodelle haben wird?

Wir haben uns zu diesem Thema schon mit einigen Rückversicherern ausgetauscht und die vorherrschende Meinung war, dass bisher viel zu wenig Erkenntnisse über die tatsächlichen und vor allem langfristigen Auswirkungen von Corona vorliegen. Da bisher nur ein geringer Teil der positiv getesteten Personen überhaupt deutliche Symptome aufweist und dieser Personenkreis in der Regel auch noch eher betagt ist, kann man derzeit davon ausgehen, dass Corona kurzfristig kaum Auswirkungen auf die Anzahl der Leistungsfälle haben wird.

Auch die sogenannte Infektionsklausel greift an der Stelle ja gerade nicht, da es in allen bisher bekannten Fällen an der Erfüllung des sechsmonatigen Prognosezeitraums mangelt und zudem die Behörden ja auch kein individuelles Tätigkeitsverbot für einzelne Berufstätige aussprechen. Dem Koch eines coronabedingt geschlossenen Restaurants wird ja beispielsweise nicht verboten, dort weiter zu kochen und etwa einen Lieferservice zu bedienen.

Bedingungsanpassungen sind natürlich denkbar, ebenso Anpassungen in den Gesundheitsfragen, schon allein deshalb, weil sich die Versicherer gegen eventuelle Langzeitschäden absichern wollen. Wie sinnvoll dieses Vorgehen ist, bleibt jedoch fraglich, solange sich an der „Infektionsstruktur“ von Corona nichts Grundlegendes ändern sollte. Wenn ein heute über 50-Jähriger tatsächlich nach beispielsweise 15 Jahren Corona-Spätfolgen nachweisen kann, die auch zu einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit führen würden, dann dürfte allerdings sein Versicherungsschutz bereits ausgelaufen sein. Bei der gesamten Thematik sollte also auch immer die zeitliche Komponente in die Betrachtung einbezogen werden.

Zum Schluss noch ein kurzer Blick auf Dread Disease. Um die Schwere-Krankheiten-Versicherung ist es in letzter Zeit ruhiger geworden. Zu Unrecht?

Die Dread-Disease-Absicherung hat aus unserer Sicht den großen Nachteil, dass sie nur auf den ersten Blick leicht verständlich ist und eindeutig definierte Leistungsauslöser aufweist. Schaut man sich mal die Versicherungsbedingungen an, dann sieht man schnell, dass hier hohes medizinisches Fachwissen erforderlich ist, wenn man die Bedingungen verstehen und erst recht vergleichen möchte. Zudem dürfte für viele Interessenten unklar bleiben, dass beispielsweise Krebs nicht gleich Krebs ist. Wenn jemand, der die zunächst einmal vermutlich für ihn erschütternde Diagnose Krebs erhalten hat, dann dazu noch von seinem Versicherer erfährt, dass er aber „nicht genug Krebs“ hat, kann das zu Frust führen.

Aus Ihrer Sicht liegt das Problem dann also vor allem in der mangelnden Transparenz und der schweren Verständlichkeit?

Für die Dread-Disease-Versicherung gilt noch mehr als für die Grundfähigkeitsversicherung, dass die Anbieter an vielen Stellen die Definition der Leistungsauslöser überdenken und verständlicher gestalten sollten. Insgesamt sehen wir die Dread-Disease-Versicherung nicht als Ersatz im Bereich der Arbeitskraftabsicherung, sondern eher als komplementäres Produkt, beispielsweise in Ergänzung zu einer BU-Absicherung.

Welchen Eindruck haben Sie, wie Versicherungsmakler mit den Themen zurechtkommen?

Aufgrund der Komplexität der Arbeitskraftabsicherung besteht die Gefahr, dass Makler und Vermittler das Thema beim Kunden gar nicht erst ansprechen; gleichwohl ist der Bedarf immer noch groß.

Somit sind die Produktgeber gefordert, ihre Vertriebspartner intelligent zu unterstützen und ihre Produkte vor allem transparent zu gestalten.

Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 02/2021, Seite 38 ff., und in unserem ePaper.

Bild: © MQ-Illustrations – stock.adobe.com

 
Ein Interview mit
Dr. Jörg Schulz