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12. Oktober 2021
Kein Elektrorollstuhl für einen blinden MS-Patienten?

Kein Elektrorollstuhl für einen blinden MS-Patienten?

Darf die Versorgung eines Multiple-Sklerose-Patienten mit einem Elektrorollstuhl verweigert werden, weil der Mann blind und damit nicht verkehrstauglich ist, wie seine Krankenkasse argumentiert? Dazu hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen einen Beschluss gefasst.

Vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat ein 57-jähriger Mann geklagt, der wegen seiner Multiple-Sklerose-Erkrankung (MS) immer schlechter gehen konnte. Zuletzt war er deshalb mit einem Greifreifen-Rollstuhl versorgt gewesen. Allerdings verschlimmerte sich seine Krankheit im Jahr 2018 dermaßen, dass ein Arm kraftlos wurde und er den Rollstuhl seitdem nur noch mit kleinen Trippelschritten bewegen konnte.

Bei seiner Krankenkasse beantragte er daher die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl. Die Krankenkasse lehnte den Antrag jedoch ab, da der Mann blind und damit nicht verkehrstauglich sei. Auch bei zulassungsfreien Kraftfahrzeugen wie einem Elektrorollstuhl führe Blindheit nach Auffassung der Krankenkasse generell zu einer fehlenden Eignung. Denn eine Eigen- und Fremdgefährdung bei der Benutzung eines Elektrorollstuhls lasse sich bei Blinden nicht ausschließen. Dafür könne die Kasse nicht haften.

Dem hielt der Mann entgegen, dass er sich mit dem Langstock schon früher gut orientieren konnte. Das habe er nun auch im Elektrorollstuhl trainiert. Einen Handrollstuhl könne er nicht mehr bedienen und ohne fremde Hilfe könne er das Haus sonst nicht mehr verlassen.

LSG: Hilfsmittelrecht muss Behinderten möglichst selbstbestimmtes Leben ermöglichen

Das LSG Niedersachsen-Bremen hat die Kasse mit seinem Beschluss zur Gewährung des Elektrorollstuhls verpflichtet. Es sei inakzeptabel, den Mann auf die behelfsmäßige Fortbewegung mit dem bisherigen Rollstuhl zu verweisen. Sehbeeinträchtigungen seien kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen. Es seien auch keine individuellen Gründe bei dem Mann gegeben, aus denen er mit einem Elektrorollstuhl nicht umgehen könne. Dies habe ein gerichtlicher Sachverständiger festgestellt. Etwaige Restgefährdungen seien dem Bereich der Eigenverantwortung zuzuordnen und in Kauf zu nehmen.

Das Gericht hat dabei dem neuen, dynamischen Behindertenbegriff eine zentrale Bedeutung beigemessen. Es sei die Aufgabe des Hilfsmittelrechts, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit in eine weitgehende Unmündigkeit zu zwingen. (ad)

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 04.10.2021, Az.: L 16 KR 423/20; Vorinstanz: SG Lüneburg

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