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5. April 2016
Rente: Weg zur Arbeitsstelle muss zumutbar sein

Rente: Weg zur Arbeitsstelle muss zumutbar sein

Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch die Fähigkeit, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Diese sogenannte Wegefähigkeit ist bei der Beurteilung der Erwerbsminderung zu berücksichtigen. Darauf hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einer aktuellen Entscheidung hingewiesen und sich auch zu den Voraussetzungen der Wegefähigkeit geäußert.

Im Streitfall war ein 60-jähriger Heimerzieher seit dem Jahr 2010 wegen Depressionen dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. Im November 2011 entzündete sich der Sehnervenkopf an beiden Augen, was zu dauerhaften Sehstörungen mit deutlich eingeschränktem Gesichtsfeld führte (fast vollständiger Verlust der unteren Gesichtsfeldhälfte). Es besteht ein Grad der Behinderung von 100. Die Deutsche Rentenversicherung lehnte den Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zunächst ab, da der Versicherte, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, noch beruflich tätig sein könne. So könne er beispielsweise noch als Poststellenmitarbeiter arbeiten. Erst im laufenden Gerichtsverfahren hat sie im Sommer 2014 rückwirkend ab dem Jahr 2013 die Rente bewilligt.

Das Sozialgericht Karlsruhe hat die Deutsche Rentenversicherung darüber hinaus verurteilt, die Rente bereits ab dem 01.01.2012 rückwirkend zu gewähren. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Deutsche Rentenversicherung als auch der Versicherte Berufung eingelegt.

Begleitperson notwendig

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat einen ärztlichen Sachverständigen eingeschaltet, der zum Ergebnis gekommen ist, dass wegen der Augenerkrankung mit dem ausgeprägten Gesichtsfeldausfall bereits im Laufe des November 2011 eine deutlich erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr sowie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingetreten war. Ohne Begleitperson könne der Mann keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und wegen der starken Sehbehinderung eine Wegstrecke von 500 m nicht in der üblicherweise veranschlagten Zeit von 20 Minuten sicher absolvieren. Bei schlechten Beleuchtungssituationen, wie Nebel oder Dunkelheit, könnten nicht einmal Bordsteinkanten oder Treppenstufen sicher erkannt werden. Daher hat das LSG dem Versicherten die Rente wegen voller Erwerbsminderung bereits ab dem 01.12.2011 zugesprochen.

Weg zur Arbeitsstelle muss zumutbar sein

Zu den „üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“, an denen die Arbeitsfähigkeit zu messen ist, gehöre nach Ansicht des LSG auch die sogenannte Wegefähigkeit, das heißt der Versicherte muss den Weg zur Arbeitsstelle zumutbar zurücklegen können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist auch derjenige erwerbsgemindert, der – gegebenenfalls unter Verwendung von Hilfsmitteln (z. B. Gehstützen) – nicht in der Lage ist, täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen oder mit einem eigenen Kfz zur Arbeit zu fahren (vgl. etwa BSG 17.12.1991, Az.: 13/5 RJ 73/90; 12.12.2011 Az.: B 13 R 79/11 R). (kb)

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.03.2016, Az.: L 13 R 2903/14