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21. August 2019
Ungenutzte Potenziale mit agiler Produktentwicklung heben

Ungenutzte Potenziale mit agiler Produktentwicklung heben

Versicherungsprodukte, die dem Kunden und dem Vertrieb gleichermaßen schmecken – mit agiler Produktentwicklung wird das möglich. Was sich dahinter verbirgt und warum sich damit ungenutzte Potenziale heben lassen, erläutern Mirko Theine und Kilian Gundlach von zeb.

Von Mirko Theine, Senior Manager und Verantwortlicher Themenfeld Produkte bei zeb, und Kilian Gundlach, Senior Consultant bei zeb

Kein Zweifel – Versicherungen haben einen schweren Stand. Das Interesse der Kunden an einer Versicherung wird oft erst im Schadenfall geweckt – und dann ist es häufig zu spät. Das intransparente Angebot von Versicherungen, welches weder die Sprache des Kunden noch seinen Geschmack trifft, fördert zusätzlich die Hemmschwelle, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. In den Produkten spiegeln sich die über Jahrzehnte gewachsenen Spartenstrukturen der Versicherungshäuser wider. Der Kunde denkt jedoch in anderen Kategorien, die sich an seinen eigenen Lebenswelten orientieren.

Aber auch Versicherungsvermittler müssen sich zwischen den Versicherungsprodukten zurechtfinden. So ist es nicht unüblich, dass der Vertrieb lediglich über eine kleine Auswahl des bereitgestellten Produktportfolios große Teile des Geschäfts generiert. Neue Produktentwicklungen werden häufig in den Vertrieb „gepresst“ – ohne feste Integration in den Beratungsprozess oder klare Verkaufsstory. Im schlimmsten Fall erhöht eine Vielzahl von nebeneinander möglichen Produktvarianten die Komplexität im Verkauf und erschwert eine klare Kaufempfehlung. Zu viel Auswahl erleichtert nicht die Entscheidung.

Auch innerhalb des Versicherungsunternehmens ist die Produktgestaltung häufig ein Ärgernis. So verursachen Produktindividualisierungen und Abweichungen vom Standard, wie beispielsweise abweichende Deckungssummen oder Sublimits, einen hohen manuellen Aufwand in der Vertragsbearbeitung und bei Schaden/Leistung. End-to-End-digitalisierte Prozesse sind damit kaum möglich.

Alles andere als ideal

Das Problem von zu wenig passgenauen Produkten ist oft hausgemacht und eine Folge starrer, unflexibler Produktentwicklungsprozesse. Tief verwurzeltes Silodenken hemmt Interdisziplinarität und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit in der Produktentwicklung. Im Zuge der IDD wurde diese mit zusätzlichen administrativen Aufgaben belegt, welche einer zeitgemäßen Produktentwicklung im Wege stehen. Unter einem klassischen wasserfallartigen Vorgehen entsteht so ein Grobkonzept, das noch vor der ersten internen und externen Kundenverprobung den „Point of no Return“ überschritten hat. Eine nachträgliche Anpassung des Produkts ist dann zu aufwendig und zu kostspielig – viel zu oft heißt es „Augen zu und durch“, und der nächste Ladenhüter steht im Verkaufsregal.

Agile Produktentwicklung als Lösung

Der Lösungsansatz der agilen Produktentwicklung ermöglicht eine kundenzentrierte Produktgestaltung unter Einbindung aller relevanten Beteiligten und die Sicherstellung einer effizienten Administration:

Zentrale Vorteile der agilen Entwicklung sind:
  • Schnelle Realisierung wesentlicher Leistungsbestandteile und Schaffung eines werthaltigen Produkts
  • Reduzierung der monetären Risiken durch zahlreiche kleine und kontinuierliche Lieferungen
  • Hohe Flexibilität durch Sprintstruktur und iterative Arbeitsweise
  • Hohes Engagement der Beteiligten durch stetige Mitwirkung und zeitnahe Fortschritte
Agilität: vom Laborcharakter zur Normalität

Die Erkenntnis, dass durch agile, kundenzentrierte Methoden Anforderungen an Kunden- und Vertriebserwartungen besser erfüllt werden, hat sich bei vielen Versicherungen durchgesetzt. Die vor einigen Jahren mit viel Wirbel durch InsurTechs in die Branche getragenen neuen Methoden sind inzwischen bei den etablierten Versicherern angekommen. Allerdings ist die Anwendung der Methoden meist auf den Einsatz in eigens eingerichteten Digital Labs, Kreativwerkstätten oder neu gegründeten Versicherern beschränkt. Eine feste Verankerung agiler Methoden in den Kernprozessen ist nach wie vor die Ausnahme.

Die Verankerung agiler Methodik im Regelprozess der Produktentwicklung in einem agilen Produktmanagementprozess verbindet regulatorische Anforderungen mit agilem Vorgehen. Klar bestimmte Zeitpunkte im Prozess für die Anwendung agiler Formate sowie definierte Ergebnistypen schaffen den Schulterschluss von vermeintlichem Chaos, stringentem Vorgehen und Dokumentation.

Agilität wird nicht durch Prozesse geschaffen. Der agile Produktmanagementprozess vereint daher zwei Dimensionen: zum einen den Prozess der Produktentwicklung – „Process“ – mit definierten Arbeitsschritten, Beteiligten, deren Aufgaben sowie Quality Gates und Dokumentationsanforderungen, zum anderen die kulturelle Dimension „People“. Diese umfasst Arbeitsweisen, Zusammenarbeitsmodelle und Räumlichkeiten, ein einheitliches Rollenverständnis und agile Methodik. Ein agiles Vorgehen in der Produktentwicklung mit klarer Zielausrichtung und Erfüllung der rechtlichen Anforderungen erfordert die Fokussierung auf diese beiden Dimensionen: „Process“ und „People“.

1. Dimension „Process“

Der Produktmanagementprozess unterstützt mit seinem Aufbau die agile Entwicklung. Die klassischen Prozessphasen der Produktentwicklung – Grobkonzeption, Feinkonzeption, Implementierung, Produkteinführung und Produktcontrolling – verschwimmen im agilen Produktmanagementprozess. Statt Phasen gibt es Zielsetzungen der Entwicklung. Diese sind „build“, „scale“ und „track“. Je nach Fortschritt der Produktentwicklung rückt eine dieser Zielsetzungen in den Vordergrund.

Ungenutzte Potenziale mit agiler Produktentwicklung heben

Zu Beginn der Produktentwicklung steht die Zielsetzung „build“. Von der Ideengenerierung über die Konzeption eines Leistungsversprechens bis zur Verprobung mit Kunden, Vermittlern und anderen Bereichen innerhalb des Versicherers werden Aktivitäten durchlaufen und Iterationsschleifen durchlebt. Ergebnis steht die finale Produktdefinition. In diesem Stadium der Produktentwicklung sind unter anderem Elemente des Design Thinking, aber auch anderer kundenzentrierter Methoden im Prozess verankert. Der Prozess folgt der Logik vom Öffnen eines Ideenraums und der Schaffung von Möglichkeiten bis zu einer Fokussierung und dem Treffen von Entscheidungen. Diese Philosophie wiederholt sich dreimal: von „watch“ über „think“ zu „act“.

Ungenutzte Potenziale mit agiler Produktentwicklung heben

Für jedes der Design-Thinking-Elemente „watch“, „think“ und „act“ sind im agilen Produktmanagementprozess agile Methoden mit klaren Ergebnistypen definiert. So wird sichergestellt, dass eine zielführende Anwendung erfolgt und das Ziel einer finalen Produktdefinition erreicht wird.

2. Dimension „People“

Das Kleben von bunten Zetteln reicht nicht aus. Agile Produktentwicklung bedarf einer Umgebung, die agiles Arbeiten ermöglicht und fördert.

Ungenutzte Potenziale mit agiler Produktentwicklung heben

Unerlässlich für agiles Arbeiten ist das Management-Commitment aller Führungskräfte zur Methodik. Was selbstverständlich klingt, erweist sich in der Praxis als große Herausforderung. Auch das Management-Board muss sein Anspruchsdenken ändern – statt Protokolle und PowerPoint-Folien gibt es für den Zwischenstand einen Klickdummy als Prototyp.

Dieses Umdenken setzt sich bei den Führungskräften fort. Das Team braucht Freiheitsgrade, Coaching und Förderung statt Kontrolle und Vorgaben. Entscheidungen werden im Team getroffen und nicht von der einzelnen Führungsperson. Dadurch entwickelt sich ein Menschenbild, das geprägt ist von Vertrauen in Mitarbeiter und einer ernsthaften Fehler- und Feedback-Kultur, die Entrepreneurship fördert und die Weiterentwicklung der Teammitglieder unterstützt.

Zur agilen Produktentwicklung gehört die gesamte Toolbox der agilen Entwicklung. Management- und Innovationsmethoden sind zu schulen und zu etablieren. Dies umfasst Projektmanagementmethoden, wie beispielsweise Scrum, Innovationsmethoden, wie Design Thinking, sowie weitere Methodiken zur Kollaboration und Kundeneinbindung. In der Projektorganisation sind agile Teams gefragt, die crossfunktional besetzt und für die Produktentwicklung von anderen Linientätigkeiten freigestellt sind, um sich voll in die Entwicklung einbringen zu können.

Letztlich gilt es, Räumlichkeiten für Kollaboration zu schaffen. Dies schließt die Verfügbarkeit eigens für die Produktentwicklung vorgesehener Projekträume, eine kreativitätsfördernde Raumgestaltung und die Ausstattung mit entsprechenden Arbeitsmitteln sowie Hard- und Softwarelösungen für agile Projektarbeit ein.

Wie die Einführung gelingt

Zunächst sollte der Produktmanagementprozess an agile Arbeitsweisen angepasst werden, und Ergebnistypen agiler Methoden sollten je nach Entwicklungsphase des Produkts definiert werden. Erfahrungsgemäß stellt eine anstehende Neuproduktentwicklung eine gute Möglichkeit dar, um den Prozess erstmalig agil zu gestalten. Darauf aufbauend kann der Prozess dann für zukünftige Produkte genauer definiert und ausgestaltet werden. Daneben gilt es, im Hause die erforderlichen Veränderungsprozesse für agile Arbeitsweisen anzustoßen. Die Praxis hat gezeigt, dass hierfür eine breite Einbindung verschiedener Ressorts erforderlich ist und es einer Changebegleitung bedarf, um die erforderlichen Veränderungen zu etablieren. Laut zeb-Erfahrung werden in einigen Häusern erste Produkte bereits agil entwickelt. Die ersten Erfolge mit +20% in den Verkaufszahlen im Vergleich zu klassisch entwickelten Produkten geben ihnen recht – die Hebung bisher ungenutzter Potenziale rechtfertigt die anfangs ungewohnten Aufwände und die kundenzentrierte Projektarbeit.

Bild: © Tierney – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Mirko Theine
Kilian Gundlach