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10. Februar 2023
Wie beeinflusst die ESG-Abfragepflicht die Geeignetheitsprüfung?
Wie beeinflusst die ESG-Abfragepflicht die Geeignetheitsprüfung?

Wie beeinflusst die ESG-Abfragepflicht die Geeignetheitsprüfung?

Für den Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten gelten besondere Anforderungen. Hinzu kommt seit Sommer 2022 die Verpflichtung, die Nachhaltigkeitspräferenzen von Kunden zu berücksichtigen. Der rechtliche Hintergrund ist komplex. Hans-Ludger Sandkühler fasst die Zusammenhänge zusammen.

Ein Artikel von Hans-Ludger Sandkühler

Seit Anfang 2018 gelten für den Vertrieb von sogenannten Versicherungsanlageprodukten (VAP) im Vergleich zu herkömmlichen Versicherungsprodukten besondere Anforderungen. Dazu zählen die Bereitstellung von speziellen Informationen, besondere Pflichten bei der Beratung und Beschränkungen hinsichtlich der Vergütung. Hinzu kommt seit dem 02.08.2022 die Verpflichtung, die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden zu erfragen und zu berücksichtigen. Der rechtliche Hintergrund ist aufgrund der Verschränkung von deutschen und europäischen Normen komplex und für Vermittler nicht einfach zu verstehen. Zusätzlich überfluten Sekundärinformationen mit meist gut gemeinten, fachlich aber nicht immer hinreichenden Hinweisen und Erklärungen den Markt, die das Verständnis weiter erschweren. Hier eine Zusammenfassung der Zusammenhänge.

Ausgangspunkt Versicherungsvertriebsrichtlinie

Die am 23.02.2016 in Kraft getretene Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) legt in Kapitel VI besondere Anforderungen für VAP fest. Als „VAP“ gelten – mit einigen in der Richtlinie näher beschriebenen Ausnahmen – Versicherungsprodukte, die einen Fälligkeitswert oder einen Rückkaufswert bieten, der vollständig oder teilweise direkt oder indirekt Marktschwankungen ausgesetzt ist. Bei den im Zusammenhang mit dem Vertrieb von VAP angebotenen Dienstleistungen unterscheidet die Richtlinie grundsätzlich zwischen Beratung zu VAP und sonstigen Tätigkeiten, die ohne Beratung stattfinden. Bei einer Beratung über VAP sind Vermittler verpflichtet, sich vom Kunden

  • Informationen über dessen Kenntnisse und Erfahrung im Anlagebereich in Bezug auf den Versicherungsvertrag,
  • seine finanziellen Verhältnisse einschließlich der Fähigkeit, Verluste zu tragen, und
  • seine Anlageziele einschließlich seiner Risikotoleranz

zu verschaffen, die es dem Vermittler ermöglichen, dem Kunden VAP zu empfehlen, die für ihn geeignet sind und insbesondere seiner Risikotoleranz und seiner Fähigkeit, Verluste zu tragen, entsprechen. Bei einer Vertriebstätigkeit ohne Beratung ist der Vermittler verpflichtet, sich vom Kunden Informationen über dessen Kenntnisse und Erfahrung im Anlagebereich in Bezug auf den Versicherungsvertrag zu verschaffen, um beurteilen zu können, ob das Versicherungsprodukt für den Kunden angemessen ist.

Deutsche Umsetzung im Versicherungsvertragsgesetz (VVG)

Europäische Richtlinien wie die IDD gelten nicht unmittelbar in den Ländern der EU, sondern müssen dort durch nationale Gesetz­gebung umgesetzt werden. Dies ist in Deutschland durch das Gesetz zur Umsetzung der IDD geschehen, das am 23.02.2018 in Kraft getreten ist.

Seitdem müssen Vermittler bei einer Beratung zu einem VAP gemäß § 7c Abs. 1 VVG in Verbindung mit § 59 Abs. 1 Satz 2 VVG (Überleitungsvorschrift) die in der IDD vorgegebenen Informationen (Kenntnisse und Erfahrungen, finanzielle Verhältnisse einschließlich Verlusttragfähigkeit, Anlageziele einschließlich Risikotoleranz) erfragen. Vermittler dürfen nur VAP empfehlen, die für den Kunden geeignet sind und dessen Risikotoleranz und Verlusttragfähigkeit entsprechen.

Gemäß § 7c Abs. 2 VVG in Verbindung mit § 59 Abs. 1 VVG hat der Vermittler stets zu prüfen, ob das Versicherungsprodukt für den Versicherungsnehmer angemessen ist. Zur Beurteilung der Zweckmäßigkeit muss der Vermittler wie in der IDD vorgegeben lediglich Informationen über Kenntnisse und Erfahrung des Kunden erfragen.

§ 7c Abs. 1 VVG übernimmt die Vorgaben der IDD fast wörtlich. § 7c Abs. 2 VVG weicht dagegen gering­fügig von der IDD ab und ist dem Gesetzgeber sprachlich verrutscht. Die Formulierung „hat stets zu prüfen“ verleitet zu der Annahme, dass auch im Falle einer Beratung eine Angemessenheitsprüfung durchzuführen sei. In Branchenveröffentlichungen ist immer wieder zu lesen, dass Vermittler verpflichtet seien, z. B. bei Fondspolicen eine Angemessenheits- und (!) Geeignetheitsprüfung durchzuführen. Ein Blick auf die konkret einzuholenden Informationen offenbart aber, dass die Angemessenheitsprüfung ein integraler Bestandteil der Geeignetheitsprüfung ist. Es ist also entweder eine Geeignetheitsprüfung oder (!) eine Angemessenheitsprüfung durchzuführen.

Da es dem Vermittler im deutschen Recht – im Unterschied zur IDD – nicht freisteht, ob er eine Beratung anbietet oder nicht, sondern gemäß § 61 Abs. 1 Satz 1 VVG grundsätzlich zur Beratung verpflichtet ist, ist bei der Vermittlung eines VAPs im Regelfall immer eine Geeignetheitsprüfung erforderlich. Lediglich in den Fällen eines Beratungsverzichts des Kunden kommt es zu einer Angemessenheitsprüfung, die deutlich geringere Anforderungen an den Vermittler stellt.

Konkretisierungen in Delegierter Verordnung

Leider erläutern weder IDD noch VVG die Begriffe Geeignetheit und Angemessenheit. Konkreter wird die Delegierte Verordnung EU 2017/2359 zur Ergänzung der IDD, die ebenfalls seit dem 23.02.2018 gilt. Danach sind VAP für den Kunden geeignet, wenn sie

  • den Anlagezielen des Kunden, auch hinsichtlich seiner Risikobereitschaft,
  • den finanziellen Verhältnissen des Kunden, auch hinsichtlich seiner Fähigkeit, Verluste zu tragen, und
  • den Kenntnissen und Erfahrungen des Kunden entsprechen.

Bei der Beurteilung der Angemessenheit ist lediglich erforderlich, dass der Kunde über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen verfügt, um die Risiken im Zusammenhang mit dem VAP zu verstehen. Darüber hinaus werden die einzuholenden Informationen über die Anlageziele und die finanziellen Verhältnisse weiter konkretisiert. Delegierte Verordnungen gelten unmittelbar und haben Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht.

Verpflichtung zur Abfrage von Nachhaltigkeitspräferenzen

Mit der Delegierten Verordnung EU 2021/1257 wird die soeben besprochene Verordnung EU 2017/2359 um Bestimmungen zu Nachhaltigkeitspräferenzen erweitert. Danach sind VAP für den Kunden geeignet, wenn sie

  • den Anlagezielen des Kunden, auch hinsichtlich seiner Risikobereitschaft und etwaigen Nachhaltigkeitspräferenzen,
  • den finanziellen Verhältnissen des Kunden, auch hinsichtlich seiner Fähigkeit, Verluste zu tragen, sowie
  • den Kenntnissen und Erfahrungen des Kunden entsprechen.

Unter Nachhaltigkeitspräferenzen versteht die Verordnung die Entscheidung eines Kunden, ob und, wenn ja, inwieweit eines der folgenden Finanzprodukte in die Anlage einbezogen werden soll:

  • VAP mit ökologisch nachhaltigen Investitionen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Taxonomie-VO,
  • VAP mit nachhaltigen Investitionen im Sinne von Art. 2 Nr. 17 Offenlegungs-VO,
  • VAP, die die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren berücksichtigen
Integration in Geeignetheitsprüfung

Mit der Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen wird deshalb die Geeignetheitsprüfung erweitert. Es ist deshalb notwendig, dass Vermittler sich nicht in Formularen zu Nachhaltigkeitspräferenzen verlieren, sondern zunächst prüfen, ob die bisherige Beratungspraxis den Anforderungen einer Geeignetheitsprüfung überhaupt genügt, um dann in einem zweiten Step die Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen zu integrieren. Die Vorschriften zur Geeignetheitsprüfung sind originäre Vermittlerpflichten. Vermittler dürfen deshalb nicht blind auf Software oder Formulare vertrauen.

Über den Autor

Hans-Ludger Sandkühler ist Vertriebs- und Versicherungsjurist und verfügt über praktische Erfahrungen aus seinen langjährigen Tätigkeiten als Versicherungsmakler und Rechtsanwalt. Er ist ausgewiesener Experte in Maklerfragen, gefragter Referent und Autor zahlreicher Veröffentlichungen (sandkuehler24.de).

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 02/2023, S. 86 f., und in unserem ePaper.

Bild: © Sandu – stock.adobe.com