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7. November 2022
Wir brauchen kluge, expansive Finanzpolitik

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Wir brauchen kluge, expansive Finanzpolitik

Der Top-Ökonom Marcel Fratzscher meint, dass gerade jetzt – in Zeiten hoher Inflation – kluge Finanzpolitik gefragt ist, die den Schwächsten unter die Arme greift. Die Leitzinsanhebungen der EZB hingegen werden seiner Ansicht nach kurzfristig kaum zur Preisstabilität beitragen – richtig seien sie dennoch.

Interview mit Prof. Marcel Fratzscher, Ph.D., Präsident des DIW Berlin
Herr Fratzscher, der IWF hat die Konjunkturprognose für Deutschland drastisch gesenkt. Für 2023 wird nun davon ausgegangen, dass das deutsche BIP um 0,3% schrumpft. Wie hart wird uns die Rezession treffen?

Die Hoffnung – und ich sage bewusst Hoffnung – ist, dass die Rezession, in der wir uns wahrscheinlich jetzt schon befinden, relativ milde bleiben wird. Auch unsere Prognose für nächstes Jahr liegt bei einem Minus von 0,5% für das Gesamtjahr. Das ist erst mal keine sehr tiefe Rezession, aber wir rechnen hier mit einem optimistischen Szenario. Die Risiken sind jedoch klar nach unten gerichtet. Eine negative Abweichung ist sehr viel wahrscheinlicher als eine positive Überraschung. Die Eskalation des Krieges in der Ukraine, weiterhin hohe Energiepreise, ein zu zögerliches Handeln der Finanzpolitik – all das sind Risiken, die dazu führen könnten, dass die Rezession deutlich tiefer ausfallen könnte. Und auch die Gefahr von Unternehmensinsolvenzen steht im Raum. Was der Ausdruck milde Rezession aber verbirgt: Sowohl die Menschen als auch die Unternehmen werden sehr unterschiedlich betroffen sein. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen – nicht nur die energieintensiven – und Menschen mit geringem Einkommen werden einen viel höheren Preis zahlen müssen. Die werden wirklich leiden.

Und das, obwohl Sie schon ein optimistisches Szenario zugrunde gelegt haben?

Ja, das liegt daran, dass die hohen Energiepreise und die Inflation die wichtigsten Gründe für diese wirtschaftliche Schwäche sind – und die treffen Menschen mit geringem Einkommen überproportional härter. Menschen mit geringem Einkommen haben einen drei- bis viermal stärkeren Anstieg ihrer Kosten im Vergleich zu Menschen mit sehr hohem Einkommen zu verkraften. Das heißt, die individuelle Inflation von Menschen mit geringem Einkommen ist ungleich höher – und zusätzlich verfügen sie kaum über nennenswerte Rücklagen. Ähnliches gilt auch für energieintensive Unternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen im Einzelhandel, die jetzt darunter leiden, dass die Menschen weniger konsumieren, während die eigenen gestiegenen Kosten nicht an die Kundinnen und Kunden weitergegeben werden können. Diese Kombination führt dazu, dass die einkommensschwächsten und verletzlichsten Menschen und Unternehmen einen besonders hohen Preis zahlen werden.

Was treibt die Inflation außer den steigenden Energiepreisen noch?

70 bis 80% der aktuell hohen Inflation sind importiert über hohe Energiepreise und andere Vorleistungen, die auf die weiterhin gestörten globalen Lieferketten zurückzuführen sind. Das sind Faktoren, die außerhalb des Einflusses der Eurozone bzw. von Deutschland liegen. Nur ein sehr geringer Teil ist wirklich selbst gemacht. Das sollte bei genauerer Betrachtung niemanden überraschen: Immerhin sehen wir eine Nachfrageschwäche, keinen Nachfrage-Boom. Der private Konsum geht zurück und wird sich perspektivisch noch einmal deutlich abschwächen. Und auch die Unternehmen investieren weniger. Der Grund für die Inflation kann also nicht auf der Nachfrageseite liegen.

 
Ein Interview mit
Prof. Marcel Fratzscher, Ph.D