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23. März 2021
Ökosystem Digital Health: Krankenversicherer als Vorreiter

Ökosystem Digital Health: Krankenversicherer als Vorreiter

Mit zunehmender Digitalisierung und Vernetzung ist es für private Krankenversicherer höchste Zeit, ihre Position stärker zu definieren und sich als Orchestrator in den Mittelpunkt eines Ökosystems zu setzen. Alternativ können sie sich als relevanter Schlüsselpartner für den Gesundheitssektor positionieren.

Ein Beitrag von Markus Heyen, Leiter des Bereichs Versicherungen bei der Unternehmensberatung Accenture

Digitalisierung im Gesundheitswesen wurde lange Zeit mit dem kleinen Chip auf der Krankenversicherungskarte gleichgesetzt. Doch diese Vorstellung ist längst veraltet. Innovative Technologien ermöglichen neue digitale Geschäftsmodelle und Angebote. Der europäische Markt für digitale Gesundheitsanwendungen soll sich von aktuell 61 Mrd. Euro bis zum Jahr 2026 auf mehr als 200 Mrd. Euro vergrößern, wovon der deutsche Marktanteil bei über 30% liegen wird.

Apps, Telemedizin & Co.

Vor allem digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) wie bei­spiels­­weise Gesundheits-Apps, Symptomtagebücher oder Diagnoseunterstützungsprogramme wachsen stark. Wichtige Elemente im digitalen Gesundheitsmarkt sind unter anderem die Telemedizin, die elektronische Patientenakte (ePA) sowie Health Gadgets wie Fitnesstracker oder Geräte zum Messen von Blutzucker, Herzschlag oder Sauerstoffsättigung. All diese Initiativen haben ein gemeinsames Ziel: die Gesundheitsversorgung der Patienten zu verbessern. Dabei bewegen sich alle Akteure des Gesundheitswesens in einem stark fragmentierten Markt, in den künftig eine Vielzahl weiterer Teilnehmer mit neuen Angeboten vorstoßen wird. Die Branchengrenzen innerhalb des Gesundheitsmarktes verschwimmen zunehmend.

Bedarf an digitalen Angeboten ist vorhanden

Mit der Einführung des digitalen Versorgungsgesetzes (DVG) hat das Bundesministerium für Gesundheit bereits Ende 2019 den Startschuss für den Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen gegeben. Das erklärte Ziel: die Innovationskraft des Gesundheitswesens zu fördern – zum Wohle der Patienten. Aus dem Einsatz digitaler Technologien ergeben sich neue Chancen. Um diese zu nutzen, sollten auch private Krankenversicherer ihre Rollen im Gesundheitssystem neu definieren und über Partnerschaften, Ökosysteme und Plattformen nachdenken. Sie verfügen derzeit nicht nur über bekannte Marken und ein höheres Maß an Vertrauen, das sich neue Health-App-Anbieter erst noch erarbeiten müssten, sondern auch über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz als Schnittstelle zwischen den unterschiedlichen Akteuren und Funktionen im Gesundheitssektor.

Gesundheitsversorgung profitiert von Digitalisierung

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bringt Vorteile für die Patienten. Sie profitieren vor allem von schnellerer Versorgung bei akuten Krankheiten und besserer Koordination von Behandlungsmöglichkeiten. Die vergangenen zwölf Monate der Pandemie offenbarten, welches Potenzial die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung birgt. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Patienten digitalen Angeboten aufgeschlossen gegenüberstehen.

Die Bereitschaft, diese neuen Möglichkeiten zu nutzen, geht weit über Apps auf Rezept, Online-­Terminvereinbarungen und Videosprechstunden hinaus. Patienten sind vor allem an einfachen und möglichst barrierefreien Lösungen interessiert, die ihnen ein umfassendes Angebot sowie schnelle Ergebnisse liefern. Derzeit sind es Einzellösungen, die spezielle Teile der Versorgung abdecken. Doch sowohl international als auch in Deutschland wird dies verstärkt angegangen. Der PKV-Verband hat dafür einen Fonds ins Leben gerufen, um innovative Lösungen zu fördern.

Angebote aus verschiedenen Bereichen vernetzen

Von der Symptomerkennung und Diagnose bis hin zur Therapie und dem Management chronischer Krankheiten und Prävention werden Patienten von unterschiedlichen Ansprechpartnern wie Ärzten, Apothekern oder Krankenversicherern begleitet. Sie brauchen dabei aktuell durchschnittlich acht unterschiedliche Apps, wenn sie digitale Unterstützung im Umgang mit ihrer Krankheit nutzen möchten. Hier wäre es hilfreich und effizienter, Angebote aus verschiedenen Bereichen zu koordinieren und zu vernetzen.

Versicherer müssen ihre Rolle im Ökosystem definieren

Genau das ist der Grundgedanke von Ökosystemen: ganzheitlich über die Bedarfssituation in einem Themenbereich nachzudenken und sich an den Anliegen der Menschen zu orientieren. Initiatoren von Ökosystemen sollten sich deshalb zunächst die Frage stellen, welche Bedürfnisse die Betroffenen wirklich haben. Dementsprechend können Partnerschaften angestrebt werden, die exakt die Bedürfnisse der Patienten adressieren. Anhand einer Studie unter mehr als 20 (Erst-)Versicherungsunternehmen in der DACH-Region konnten wir feststellen, dass Versicherungen sich selbst als Orchestrator im Bereich Gesundheit und Fitness sowie Pflege und Alltagshilfe sehen. Mit diesem neuen Geschäftsfeld wollen Versicherungen den Anteil ihres Gesamtumsatzes in den kommenden fünf Jahren von aktuell 3% im B2B-Bereich auf bis zu 7% und im B2C-Bereich auf bis zu 10% erhöhen.

Der Markt ist in Bewegung

Beim Aufbau von Gesundheitsplattformen und -ökosystemen hinkt Deutschland im internationalen Vergleich allerdings noch hinterher. In unserem Nachbarland Schweiz lancieren beispielsweise verschiedene Krankenversicherer gemeinsam mit anderen Partnern eine digitale Gesundheitsplattform, die allen Akteuren des Gesundheitswesens offenstehen soll. Das Ziel ist es, Patienten bei der Organisation ihrer persönlichen Gesundheitsversorgung und bei sämtlichen Schritten einer Behandlung mit entsprechenden Angeboten zu begleiten.

Die Dynamik im Markt zeigt, dass bereits heute viele neue digitale Geschäftsmodelle existieren, die Patienten in allen Phasen einer Erkrankung unterstützen. Mit der ersten Welle sahen wir Services wie Rechnungs-Uploads und Statusmeldungen. In der zweiten Welle wurde die digitale Terminbuchung möglich. Sogenannte Symptom-Checker liefern anhand vorhandener Krankheitszeichen Hinweise auf mögliche Krankheitsbilder und schlagen entsprechende Behandlungsempfehlungen vor. Mit der Pandemie erreichte uns eine dritte Welle, in der Videosprechstunden und digitale Rehabilitationsunterstützung zu unserem Alltag wurden.

Die nächste Digitalisierungswelle für Kunden

In der vierten Welle gilt es, ein gesamthaftes Angebot zu schaffen, das von einer gemeinsamen Basis ausgehend koordiniert und mit allen Anbietern abgestimmt wird. Aus Kundensicht sind die Versicherer bestens als Initiator eines Gesundheitsökosystems geeignet.

Doch es ist noch ein weiter Weg, bis Patienten von den neuen Entwicklungen profitieren können. Der Abschied von klassischen Denkmodellen und die Zusammenarbeit mit neuen Partnern, Investitionen in moderne Technologien, API-Schnittstellen und Datenverschlüsselung sowie eine intensive Auseinandersetzung mit Datenschutzauflagen, Cybersecurity und Berechtigungskonzepten zur Datenhoheit der Patienten gehören dazu. Versicherungsunternehmen sollten sich diesen Herausforderungen besser früher als später stellen. Einige Versicherer starten schon damit.

Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 03/2021, Seite 42 f., und in unserem ePaper.

Bild oben: © WrightStudio – stock.adobe.com

 
Ein Artikel von
Markus Heyen