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3. Mai 2021
„Die Menschen müssen sich ein Stück weit von ihrer Garantiefixierung lösen“

„Die Menschen müssen sich ein Stück weit von ihrer Garantiefixierung lösen“

Aktuare treiben Innovationen in den Versicherungsgesell­schaften voran. Ihr Einfluss auf die Angebote in der privaten Altersvorsorge ist groß. Ihre Empfehlungen haben in der Politik Gewicht. Beharrlich fordern sie etwa eine bAV- und Riester-Reform. So auch Dr. Herbert Schneidemann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) e. V., im Interview mit AssCompact.

Herr Dr. Schneidemann, die Aufgaben der Aktuare und Aktuarinnen entwickeln sich im Bereich der Altersvorsorge über die Mathematik hinaus. Mit welchen weiteren Fragestellungen müssen Sie sich denn befassen?

Altersvorsorge war schon immer mehr als reine Mathematik. Denn sie ist eines der zentralen Themen für unsere alternde Gesellschaft. Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit der Frage, was es heißt, gut zu leben. Dazu zählt neben vielen anderen Fragen auch die persönliche Versorgungssituation im Alter. Das heißt konkret, dass unsere Produkte so konstruiert sein müssen, dass sie den Bedürfnissen der Deutschen entsprechen und ihrer jeweiligen Lebenssituation Rechnung tragen.

Da sich die Rahmenbedingungen speziell für die gesetzliche Rente regelmäßig ändern, müssen innovative Konzepte der zweiten und dritten Säule die immer größer werdenden Löcher der ersten Säule stopfen. Wir sind zusätzlich also auch noch Zukunftsforscher und Architekten des Altersvorsorgehauses der Zukunft. Aber auch dafür ist die Mathematik ein sehr gutes Werkzeug.

Ist Ihr Berufsstand der Treiber dafür, dass die 100%-ige Beitragsgarantie in privaten Rentenversicherungen gekippt wurde?

Es wäre vermessen, nur uns hier in den Mittelpunkt zu stellen. Produktentwicklung ist immer eine Teamleistung. Aber es ist vollkommen richtig, dass die Aktuare und Aktuarinnen in den Versicherungen seit jeher die Produktschmiede und Innovationstreibenden sind – und nicht wie vielfach vermutet nur die Rechenknechte im Keller. Auch wenn niemand absehen konnte, dass wir in eine derart drastische Tiefzinssituation laufen, waren die Umbrüche an den Kapitalmärkten bereits vor Jahren sichtbar.

Und ja, diese Veränderungen haben viele Aktuariate auch als Chance gesehen, moderne Produktgenerationen mit neuen Garantiekonzepten zu entwickeln. Diese neuen Garantiekonzepte bieten in der Regel eine höhere Sicherheit, was auf den ersten Blick überraschen kann. Allerdings überrascht es nur, wenn man Garantie mit Sicherheit verwechselt – was leider allzu oft der Fall ist.

Aufgrund der Niedrigzinsen gibt es also für die Lebensversicherer keinen anderen Weg?

Lebensversicherungen sind keine kurzfristigen Geldanlageprodukte. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, eine verlässliche, renditestarke und lebenslange Rentenzahlung sicherzustellen. Dieser Dreiklang war noch nie trivial und wird in diesen Kapitalmarktzeiten immer herausfordernder. Daher ist es richtig: Die Menschen müssen sich ein Stück weit von ihrer Garantiefixierung lösen, damit die Lebensversicherung im Alter tatsächlich einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, die immer größer werdenden Lücken in der gesetzlichen Rente zu schließen. Ohne diesen Paradigmenwandel und die damit verbundenen Senkungen des Garantie­niveaus würden die Lebensversicherungen zu einem teuren Festgeldsparen werden. Das ist ganz sicher auch nicht im Interesse der Deutschen.

Was ist mit der Kostenstruktur der Versicherer? Hätte man nicht auch daran drehen können?

Es ist nicht an mir und der DAV, die Kostenstrukturen in den Unternehmen und im Vertrieb zu bewerten. Es ist aber unsere Aufgabe, auf Wechselwirkungen hinzuweisen und klar zu sagen, dass bestimmte Produkte bei negativen Kapitalmarktzinsen, den strengen regulatorischen Vorgaben und den bestehenden Kostensätzen schlichtweg nicht mehr darstellbar sind. So ist es beispielsweise auch bei der Riester-Rente mit ihrer bisherigen 100%-igen Beitragsgarantie. Das ist ein hochkomplexes Produkt, bei dem es häufig zu Vertragsanpassungen und zur Rückforderung von Zulagen kommt.

Unsere Simulationsrechnungen zeigen, dass die Verwaltungs- und Abschlusskosten bei einem Höchstrechnungszins von 0,25% und einem marktdurchschnittlichen Jahressparbetrag bei gerade einmal ein bis zwei Euro pro Monat liegen dürfen. Und dabei sind die Kosten für die gerade bei Riester-Produkten dringend erforderliche Beratung noch gar nicht berücksichtigt. Wir gehen davon aus, dass sich sehr viele Versicherungen ohne Reform ab 2022 aus der Riester-Rente zurückziehen müssen, da sie dieses Produkt für den Preis einer großen Kugel Eis im Monat schlichtweg nicht mehr verwalten können.

Nun geht es darum, auf der Kapitalanlageseite mehr Rendite zu erzielen. Können das die Versicherer? Zumal sie mit Blick in die Zukunft nicht wissen können, ob das so funktioniert.

Kurz und knapp: Ja. Denn das Management von Verpflichtungen und dazu passenden Kapitalanlagen ist eine der Kernkompetenzen der Versicherungen und ihrer Aktuare. Ich denke, die Versicherer haben seit Jahrzehnten bewiesen, dass sie auch in schwierigen Marktsituationen sehr beachtliche Renditen erwirtschaften. Gerade in Zeiten wie diesen hat das Sparen im Kollektiv signifikante Vorteile, denn die Sicherungs- und Glättungsmechanismen in unseren großen Kollektiven verhindern, dass Kapitalmarktschwankungen eins zu eins auf das individuelle Versorgungskonto durchschlagen und so insbesondere kurz vor Eintritt des Versorgungsfalls zu dauerhaften Verlusten führen.

Dies stellt einen signifikanten Unterschied zu individuellen (Fonds-)Sparplänen dar, wie sie beispielsweise in den USA bereits seit Jahrzehnten auch für die betrieb­liche Altersversorgung genutzt werden. Dort profitieren die Anleger in guten Zeiten überproportional von steigenden Aktienkursen. In Bärenmarktphasen sind die negativen Auswirkungen aber umso gravierender. Nach der Finanzkrise mussten viele Amerikaner deutlich länger als geplant arbeiten, da sich ihre Altersvorsorge durch den Börsencrash pulverisiert hatte. Zwar haben sich die Börsen längst von diesem Schock erholt – individuelle Planungssicherheit sieht aber anders aus.

Weiterhin kann man bei Versicherern trotz Flexibilität in den Produkten an den höheren Erträgen von illiquiden Anlagen wie Infrastrukturprojekten partizipieren. Gerade in der heutigen Zeit sind die Überrenditen illiquider Anlagen so hoch wie selten zuvor.

Wie viel mehr Rendite kann denn eine Reduzierung erreichen?

Untersuchungen der DAV zeigen, dass bereits eine Reduktion des Garantieniveaus auf 80% der Beitragssumme ermöglicht, über die gesamte Vertragslaufzeit signifikante Anteile von Aktien und alternativen Anleihen dem Portfolio beizumischen. Dies erhöht die Chance auf höhere Renditen deutlich. Eine quantitative Aussage ist vom jeweiligen Kapitalmarktmodell abhängig, aber qualitativ bestätigen alle Untersuchungen diese Aussage.

Könnte Riester damit gerettet werden? Und wie wichtig ist Riester für die private Ver­sicherungswirtschaft?

Die Riester-Rente ist ein Vorsorgeprodukt unter vielen, aber mit Blick auf die Zahl der abgeschlossenen Verträge zweifellos ein wichtiges. Als Aktuare fokussieren wir uns nicht auf ein Produkt, sondern immer auf das große Ganze. Das bedeutet, wir möchten den Menschen eine verlässliche, planbare Altersvorsorge anbieten. Daher unterstützen wir auch ausdrücklich die nun beschlossene digitale Rentenübersicht. Diese hilft den Menschen, schnell und – hoffentlich – verständlich einen Überblick über ihre zu erwartenden Rentenansprüche und die damit einhergehenden Lücken zu bekommen.

Für uns als DAV ist am wichtigsten, dass die Politik den Deutschen O klar und transparent aufzeigt, wie die Altersvorsorge in den kommenden 20 oder 30 Jahren aufgebaut sein wird. Dabei muss in Anbetracht des demografischen Wandels die kapitalgedeckte Altersvorsorge sogar an Bedeutung gewinnen. Wie diese ausgestaltet wird, dazu bringen die 6.000 DAV-Mitglieder gern ihre Expertise ein. Aber die Entscheidung muss die Politik endlich treffen und diese Verantwortung nicht von einer Regierungskommission in die nächste delegieren.

Lange haben die Versicherer die Lebensversicherung über das Argument Garantie verkauft. Ist das nicht auch schwierig, die Veränderung den Kunden und Beratern zu vermitteln? Sie haben schon angesprochen, was die Lebensversicherung abgrenzt, aber unterscheidet sie sich wirklich noch von anderen Produkten? Die größte Konkurrenz dürfte heute ja vonseiten der ETFs kommen.

Gegenfrage: Was ist das Hauptgarantieversprechen der Lebensversicherung in der Altersvorsorge? Für mich sind das die lebenslangen, verlässlichen Rentenzahlungen und der Hinterbliebenenschutz. Das sind die Alleinstellungsmerkmale dieses Altersvorsorgeprodukts und nicht die jährlichen Garantien in Höhe von x Prozent. Wer nur darauf schaut, sollte sich natürlich auch mit klassischen Bankprodukten oder ETFs auseinandersetzen.

Viele vergessen dabei aber leider, dass zu diesen Planungen nicht nur die jahrzehntelange Anspar-, sondern auch die Entsparphase gehört. Und fast jeder unterschätzt, wie lange er oder sie lebt. Denn meist ist das Sterbealter der Großeltern der Referenzwert für die eigene Lebenserwartung. Dabei steigt diese alle fünf Jahre um ein ganzes Jahr. Oder anders ausgedrückt: In den vergangenen 140 Jahren hat sich die Lebenserwartung bei Geburt in Deutschland mehr als verdoppelt.

Die DAV empfiehlt, den Höchstrechnungszins zu senken. Was erwarten Sie da vom Finanz­ministerium und wie verändert dies den Markt weiter?

Die Entscheidung zum Höchstrechnungszins ist just für diese Tage angekündigt. Wir haben eindringlich an den Gesetzgeber appelliert, zusammen mit der Senkung des Höchstrechnungszinses auf 0,25% auch den bislang gesetzlich vorgeschriebenen Beitragserhalt in der Riester-Rente und bei der Beitragszusage mit Mindestleistung (BZML) in der betrieblichen Altersversorgung zu überarbeiten. Denn eine singuläre Senkung des Höchstrechnungszinses stellt nach unseren Analysen kein gesamthaftes Konzept dar, um die kapitalgedeckte Altersvorsorge angesichts der anhaltenden Tiefzins­situation zukunftsfest zu machen.

Sollte es mit der von der DAV geforderten Senkung des Höchstrechnungszinses keine Reform der Riester-Rente und der BZML geben, werden sich nach DAV-Erwartungen die meisten Unternehmen aus diesen Geschäftsfeldern zurückziehen müssen. Bereits heute bieten die Banken keine Riester-Produkte mehr an, die Fondsgesellschaften steigen zunehmend aus und laut Daten der Ratingagentur Assekurata bieten auch bereits 40% der Lebensversicherer keine Riester-Rente mehr an.

Die Inflation wird vermutlich in dem Jahr in Deutschland deutlich steigen. Was bedeutet das für die Lebensversicherung?

Wie auch eine aktuelle Studie des ifa aus Ulm zeigt, sind zu hohe Garantieniveaus in Zeiten steigender Inflation und teilweise negativer Kapitalmarktzinsen Gift für die Realwertrendite. Gerade jetzt wäre es sinnvoll, Teile der Kundengelder in chancenorientierte Komponenten wie Aktien oder alternative Investments anzulegen, da diese über lange Zeiträume eine positive Korrelation mit der Inflation aufweisen. Das haben die Versicherer bereits vor Jahren erkannt und ihre Angebote mit fondsgebundenen Policen massiv ausgebaut, sodass die alte Klassik immer mehr zum Spartenprodukt für sehr sicherheitsorientierte Menschen wird. Jetzt ist es an der Politik, auch die bereits diskutierten staatlich geförderten Produkte wie Riester-Rente und BZML aus ihrem starren Korsett zu entlassen.

Wann erwarten Sie denn wieder einen Zinsanstieg und welche Folgen hätte der für die Ver­sicherer und die Lebensver­sicherungsverträge?

Aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Ausweitung der EZB-Anleihenprogramme erwarten wir in den kommenden Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, keinen signifikanten Anstieg der Zinsen. Natürlich kann es sein, dass die Marktzinsen um 0,5 Prozentpunkte steigen, wie wir es Anfang 2021 gesehen haben. Aber das ist keine Trendumkehr. Viele Markt­beobachter gehen davon aus, dass die EZB kurz- bis mittelfristig beispielsweise für Deutschland die Renditen für zehnjährige Bundesanleihen nicht über –0,30% steigen lassen wird. Denn viele hoch verschuldete Länder könnten sich steigende Zinsen schlichtweg nicht leisten, und das weiß die EZB ganz genau.

Daher ist eine Diskussion über steigende Zinsen aktuell nicht angebracht. Es steht eher die Frage im Raum, wie weit der Zinsverfall noch gehen kann und was das für die Lebensversicherer bedeuten würde. Und genau diese Auswirkung auf die Lebensversicherung zu managen, das ist eine der Hauptaufgaben von uns Aktuaren und Aktuarinnen als Gralshüter der Sicherheit.

Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 05/2021, Seite 40 f., und in unserem ePaper.

Bild: © Sashkin – stock.adobe.com

 
Ein Interview mit
Herbert Schneidemann