Ein Artikel von Prof. Dr. Ingo Hamm, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt
Stellen Sie sich vor: Es ist Montagmorgen, 8:47 Uhr. Sie sitzen im Home-Office, die Kamera ist aus, das Mikro auf stumm. Während Ihr Chef über „strategisches Alignment“ philosophiert, scrollen Sie durch drei Nachrichtenseiten gleichzeitig. Die Katze springt auf den Tisch, der Paketbote klingelt, und Sie fragen sich: Ist das jetzt die große Freiheit, von der alle sprechen?
Eine Home-Office-Typologie
Nach Jahren der Beobachtung und unzähligen Gesprächen mit „Kettensprengern“ – so nenne ich die Menschen, die sich mehr Freiheit im Job wünschen – habe ich fünf Motivationstypen identifiziert, die das Home-Office wollen, brauchen, nicht mehr hergeben möchten. Die beinahe tragische Wahrheit gerade für Führungskräfte ist, dass es mit den Typen nicht so einfach ist wie gedacht: Die meisten Menschen wünschen sich nicht die Hängematte, sondern haben sehr unterschiedliche Beweggründe, die es zu verstehen gilt.
Da sind zunächst die Verweiger:innen. Mit teilweise beeindruckender krimineller Energie täuschen sie im Home-Office vor zu arbeiten, während sie in Wahrheit Netflix schauen oder die Wohnung renovieren. Sie sind der Albtraum jedes Managers und der Grund, warum die Home-Office-Debatte so hitzig geführt wird. Zum Glück sind sie eine verschwindend kleine Minderheit – aber sie bereiten den größten Unfrieden im Team.
Dann gibt es die Jongleur:innen, die wahren Akrobaten des Alltags. Beruf, Kinderbetreuung, Pflege der Eltern, Termine, Handwerker – ohne Home-Office würde ihr Lebenskonstrukt wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Sie sind nicht faul, sie sind erschöpft von der schieren Menge an Bällen, die sie in der Luft halten.
Die Eskapist:innen fliehen vor toxischen Arbeitsumgebungen. Sie haben entweder keine Freude mehr an der Tätigkeit oder in ihrer aktuellen Rolle, nicht mit diesem Chef, nicht in diesem Büro. Das Home-Office ist ihre Fluchtburg vor Mikromanagement, sinnlosen Meetings und einem als sinnlos empfundenen Job. Nur jenseits der Arbeit finden sie Erfüllung, sei es im Hobby, im Ehrenamt oder in der Familie.
Essentialist:innen schätzen das Home-Office, weil sie dort endlich konzentriert arbeiten können. Keine Störungen, keine spontanen Unterbrechungen. Denken Sie an den Makler, der Vertragswerke studiert oder sich in neue regulatorische Vorgaben einarbeitet – all das geht zu Hause oft besser als im Großraumbüro. Sie laufen jedoch Gefahr, professionell zu vereinsamen, wenn Effizienz zu sehr auf Kosten des Zusammenhalts geht.
Für Fatalist:innen ist das Home-Office der letzte Schritt vor dem kompletten Zusammenbruch. Statt sich wegen Burn-out krankschreiben zu lassen, ziehen sie sich zurück, bis gar nichts mehr geht.
Führung ist nicht Management, sondern Führung ist People Business. Führen heißt, führen wollen, sich mit Menschen auseinandersetzen wollen und dafür Zeit freimachen. Führen ist, ein Gespür für das Team zu bekommen – und die Motive, auch stille Motive, Lebensrealitäten und Antriebe, die häufig im Verborgenen liegen. So lassen sich Motivationstypen unterscheiden und die positiven Typen gezielt ansprechen und motivieren.
Seite 1 Die Home-Office-Illusion: Warum wir uns die Freiheit schönreden
Seite 2 Die unbequemen Wahrheiten
Seite 3 Die Zukunft: Hybrid, aber richtig
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