Die unbequemen Wahrheiten
Jetzt kommt der Teil, den niemand hören will, zumindest nicht aufseiten vieler Beschäftigter: Home-Office hat einen Preis. Und ich meine nicht die Stromrechnung oder den ergonomischen Bürostuhl, den sie sich selbst kaufen mussten.
- Vertrauen in Teams entsteht viel besser in Präsenz als virtuell. Das ist wissenschaftlich belegt. Besonders für neue Teammitglieder ist essenziell, die ungeschriebenen Regeln, Dynamiken, kleinen Gesten und Zwischentöne mitzubekommen. In der Versicherungsbranche, wo Vertrauen das A und O ist, wiegt das besonders schwer. Wie soll ein Junior-Makler lernen, wie man schwierige Kundengespräche führt, wenn er seinen erfahrenen Kollegen nie über die Schulter schauen kann?
- Digital arbeitende Teams sind weniger kreativ als Teams in Präsenz. Ja, ich weiß, Sie hatten letzte Woche ein superproduktives Brainstorming online via Miro-Board. Aber die wirklich verrückten, innovativen Ideen entstehen meist spontan beim Kaffee, beim zufälligen Gespräch auf dem Flur. Gerade wenn es darum geht, neue Produkte zu entwickeln oder kreative Lösungen für Kundenbedürfnisse zu finden, ist spontane Kreativität Gold wert. Aber Kreativität braucht man nicht nur für Produkt- und Service-Innovation, sondern auch für Prozesse, Abstimmungen, Strategien.
- Resilienz im Team entsteht vor allem – im Team! Krisen meistert man gemeinsam, nicht jeder für sich im stillen Kämmerlein. Psycholog:innen wissen: Arbeitsbezogene Resilienz entsteht bei der Arbeit und nicht durch Flucht in den heilen privaten Kontext. Und seien wir ehrlich: In der Versicherungsbranche gibt es genug Krisensituationen – sei es ein schwieriger Schadenfall, regulatorische Änderungen oder einfach nur Quoten- oder Quartalsdruck.
Das Dilemma vieler kleiner Unternehmen
Für kleinere und mittlere Maklerunternehmen ist die Home-Office-Frage besonders heikel. Einerseits müssen sie im War for Talents mithalten können. „Kein Home-Office“ ist heute fast ein K.O.-Kriterium bei der Personalsuche. Doch gerade kleinere Unternehmen leben von ihrem Teamspirit, der familiären Atmosphäre. Ein Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens erzählte mir: „Wir haben 35 Mitarbeiter. Wenn die alle im Home-Office sind, existiert unsere Unternehmenskultur nur noch auf dem Papier. Aber wenn ich kein Home-Office anbiete, bekomme ich keine neuen Leute mehr.“ Ein klassisches Dilemma. Die Lösung kann nicht sein, einfach drei Tage Home-Office zu verordnen und zu hoffen, dass sich der Rest von selbst regelt. Wenn man Großes erreichen will, kann nicht jeder sein eigenes Ding durchziehen, man muss zusammenkommen – und zwar als Regelfall, nicht als Ausnahme.
Die vergessene Kunst der Kundenbeziehung
Was in der Home-Office-Debatte oft untergeht: Oft geht es um Menschen und Kunden, nicht um abstrakte Prozesse. Vieles läuft heute digital. Aber gerade in komplexen Beratungssituationen, bei Schadenfällen oder wenn es um Vertrauen geht, zählt der persönliche Kontakt. Wie soll man den authentisch gestalten, wenn man selbst nur noch virtuell mit Kollegen interagiert?
Job Crafting: Die eigene Arbeitselbst interpretieren
Der Ausweg aus dem Dilemma: Job Crafting. Die Idee stammt von Amy Wrzesniewski und Jane Dutton, die in einer Studie zeigten: Menschen im gleichen Job mit gleicher Bezahlung können radikal unterschiedliche Zufriedenheit erleben, indem sie ihren Job selbst interpretieren und neu definieren und nicht auf Änderungen von oben warten. Job Crafting heißt, seine Aufgaben und seine Beiträge zu hinterfragen, zu erweitern, teilweise bis an die Grenze des Erlaubten zu gehen – eben alles außer Dienst nach Vorschrift. Übertragen auf die Versicherungsbranche: Der mäßig zufriedene Sachbearbeiter sieht sich als „Antragsabarbeiter“, der andere („Job Crafter“) als „Ermöglicher von Sicherheit für Familien“. Der eine Makler „verkauft Policen“, der andere „schützt Existenzen“. Gleiche Tätigkeit, komplett andere Perspektive.
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