Ein Artikel von Dr. Patrick Dahmen, Managing Partner der Valytics GmbH
Versicherer sind vielfachen Veränderungen ausgesetzt, was dann zu einer existenzgefährdenden Herausforderung wird, wenn sie die Geschäftslogiken und Kernglaubenssätze der Vergangenheit für die Lösung der Zukunftsthemen anwenden, frei nach Peter Drucker, dem berühmten Management-Vordenker.
Digitale Trends und Technologien mit Relevanz für die Assekuranz
Es gibt viele digitale Trends, die unser Geschäftsmodell nachhaltig verändern. Das prominenteste Beispiel sind die Entwicklungen im Bereich der generativen künstlichen Intelligenz (KI), insbesondere die dank ChatGPT bekannt gewordenen Generative-pre-trained-Transformer-Modelle. Versicherungen basieren gerade auf dem Verstehen und der Interpretation von Daten, Texten, Bildern sowie quantitativen Sachverhalten, was die Kerndisziplin vieler KI-Modelle ist.
ChatGPT
Wir haben uns daran gewöhnt, dass ChatGPT die Anwaltsprüfung in den USA oder den Eingangstest für die Zulassung zum Studium in den USA mit beeindruckenden Ergebnissen besteht. Empirische Studien belegen, dass die Nutzung von ChatGPT auch die Produktivität von Akademikern beim Verfassen von Texten steigert – ca. 37% Zeitersparnis – und sich die Qualität der Arbeitsergebnisse verbessert. Wenngleich Fragen zum Thema Datenschutz, Schutz wettbewerbsrelevanter Unternehmensdaten sowie auch ethische Fragen noch offen sind, die zweifelsohne einer Klärung sowie eines regulatorischen Rahmens bedürfen, so ist die generelle Stoßrichtung klar: KI-Anwendungen werden die Wertschöpfungskette der Versicherung verändern.
Die Analyse und das Verstehen unstrukturierter Daten in betrieblichen Prozessen oder auch der Kundeninteraktion sind hierbei nur zwei Anwendungsbeispiele. Wichtig hierbei ist, dass verschiedene funktional ausgerichtete generative KI-Anwendungen, unter anderem Texte, Sprache, Bilder, miteinander verbunden werden. Noch stärker ist die Wirkung, wenn auch der emotionale Zustand der Gesprächspartner durch die KI berücksichtigt wird.
Metaverse
Unklarer sind die Auswirkungen des Metaverse. Die Grundlagen für das Metaverse werden durch Web 3.0 geschaffen, indem es die dezentralisierte und nutzerzentrierte Infrastruktur bereitstellt, die für den Aufbau einer interaktiven virtuellen Welt erforderlich ist. Web 3.0 stellt unter anderem auf Basis der Blockchain-Technologie, dezentraler Anwendungen, des Grundsatzes der Interoperabilität und dezentraler Ansätze sicher, dass der Nutzer wieder Kontrolle über seine Daten und digitalen Ressourcen erhält.
Metaverse verbindet die virtuelle mit der realen Wirklichkeit und schafft somit intensivere immersive Kundenerlebnisse. Gerade komplexe Produkte, wie beispielsweise in der Altersvorsorge, können für Kunden anders zugänglich gemacht werden. Das Metaverse wird zum Treffpunkt für eine umfassendere virtuelle Beratung, als dies heute möglich ist. Dies unterstreicht auch ein Whitepaper von signals, dem Innovation Hub der SIGNAL IDUNA.
Open Insurance
Steigende Relevanz erhält auch das Thema Open Insurance, das den offenen und standardisierten Austausch von versicherungsbezogenen persönlichen und nicht-persönlichen Daten mithilfe von (offenen) APIs und Prozessstandards beschreibt. Im Fokus stehen Verbraucher, die im Sinne der Datensouveränität entscheiden, wie und in welchem Maße sie Drittanbietern Daten zur Verfügung stellen. Kundenzentrierung, Offenheit im Austausch und Standardisierung stehen im Fokus. Ähnlich wie im Banking mit der Zahlungsdiensterichtlinie PSD2 werden sich auch aus der Zusammenführung von Daten in der Personenversicherung viele Anwendungsbeispiele ergeben, zum Beispiel Transparenz zur anbieterunabhängigen Altersvorsorgesituation im Zusammenspiel mit dem Renten-Cockpit zur gesetzlichen Rente.
Die EU mit ihrer Data Finance Strategy sowie die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA befürworten ebenfalls die Verknüpfung von Daten auf Veranlassung der Kunden, wie auch das InsurLab Germany im Whitepaper zum Status quo Rahmenbedingungen und Auswirkungen von Open Insurance unterstreicht. Neben diesen Trends gibt es weitere für die Assekuranz relevante Trends, wie die Verbreitung von Cloud-Applikationen oder Quantum Computing als Voraussetzung für die Bewältigung dieser Datenmassen.
Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle in der Personenversicherung
Digitale Plattformen – ein Gamechanger?
Digitale Plattformen, die sich zwischen dem Versicherer und dem Vertriebskanal oder Endkunden positionieren, nehmen an Bedeutung zu. CHECK24 ist möglicherweise das prominenteste Beispiel, aber auch bAV-Plattformen, die die digitale Abwicklung des bAV-Geschäfts übernehmen, fallen in diese Kategorie und bauen ihr Geschäft aus, wie zum Beispiel die kürzliche Akquisition von eVorsorge durch Xempus erneut bestätigt. Auch Maklerpools greifen diese Entwicklung auf. So gelingt es Fonds Finanz, nicht zuletzt durch die Beteiligung am Deutschen Maklerverbund (DEMV) oder durch den Erwerb von softfair, eine umfassende Maklerplattform anzubieten, die neben Beratung und Tarifvergleichsrechner auch über ein Maklerverwaltungsprogramm verfügt sowie die gesamte Abwicklung mit den Versicherern übernimmt.
Konkurrenz durch Amazon?
Die Gefahr besteht, dass die Ertragsmargen der Versicherer immer stärker durch solche Anbieter abgeschöpft werden, was auch eine Motivation dafür sein könnte, dass die Etablierung einer eigenständigen Plattform zur Vernetzung der Assekuranz von BiPRO mit dem Titel BiPRO Hub vorangetrieben wird. Und nicht zuletzt bleibt die Frage im Raum, wann die wohl bekannteste digitale Endkundenplattform auch in Deutschland angreift. Der Amazon Insurance Store in Großbritannien könnte hier einen Vorgeschmack geben, wo Amazon den Versicherungsumfang, die Service-Levels sowie Rahmenbedingungen für die Schadenabwicklung unabhängig vom Versicherer definiert – und zwar durch „the Amazon way“, wie es auf der Website heißt.
Embedded insurance
In den letzten Jahren haben Versicherer auch verstärkt versucht, ihre Versicherungsprodukte im Huckepackverfahren mit dem eigentlichen Kernprodukt anzubieten – heute vielfach als embedded insurance bezeichnet. Hier wird ein starkes Wachstumspotenzial vermutet, wie beispielsweise die Allianz im Rahmen der Akquisition von Simplesurance betonte.
Restschuldgeschäft
Auch in der Lebensversicherung gibt es einige Beispiele – in Deutschland unter dem Begriff Restschuldgeschäft und im Ausland eher als „income protection“-Produkte bekannt – also Produkte, die ein bestimmtes regelmäßiges Einkommen wie etwa Arbeitseinkommen oder Mieteinnahmen, gegen Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit oder Tod absichern. Verschiedene InsurTechs positionieren sich hier.
Digitale Ansatzpunkte zur Stärkung der Kundenbindung
Diese Trends zeigen auch eine kritische Entwicklung auf. Versicherer werden stärker auf ihre Rolle als Risikoanbieter und Kapitalgeber reduziert und spielten in dieser Konstellation kaum mehr eine wahrnehmbare Rolle an der Kundenschnittstelle.
Kundenbedürfniswelten
Ein Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Positionierung als Gestalter von Kundenbedürfniswelten, die oftmals unter dem stark strapazierten Begriff der Ökosysteme bekannt sind.
Gerade im Gesundheitswesen entsteht ein umfassendes Angebot von relevanten Präventions- und Managed-Care-Ansätzen, bei denen den Kunden weit mehr als ihre Arzt- und Krankenhauskosten erstattet werden. Vielmehr werden sie kontinuierlich begleitet und unterstützt, zum Beispiel durch Präventionsansätze im Bereich der mentalen und physischen Fitness, Therapiebegleitung bei chronischen Erkrankungen oder auch im Bereich der Telemedizin.
Auch in der Biometrie gibt es verschiedene Ansätze, damit Kunden beispielsweise erst gar nicht berufsunfähig werden oder relativ zeitnah „back to work“ gelangen. Die chinesische Ping An Insurance mit ihren Ökosystemen, beispielsweise Gesundheit („good doctor“), Mobilität oder Finanzen, hat dieses Prinzip am besten verstanden. Ping An bekommt über diese Bedürfniswelten Zugang zu und langfristige Bindung mit ihren Kunden.
Der Kundenkontakt wird auf Basis einer einheitlichen Infrastruktur, insbesondere durch das einheitliche Kundenkonto, die Zahlungsfunktion oder die Social-Media-Funktion, sehr konsequent gemanagt. Das Cross- und Up-Selling mit Ping An-Finanzprodukten im Rahmen einer offenen Produktarchitektur erfolgt in einem zweiten Schritt.
Stärkung der Kundenbeziehung
Versicherer können auch selektive Ansätze zur Stärkung der Kundenbeziehung verfolgen. Wenngleich es heute noch kaum umgesetzt wird, könnte der Wechsel von einem statischen und zeitpunktbezogenen zu einem dynamischen und kontinuierlichen Underwriting hierzu einen Beitrag leisten. Weltweite Beispiele wie Discovery Insurance mit Vitality geben die Richtung vor. Durch das kontinuierliche Teilen von Gesundheitsdaten kann sich nicht nur ein finanzieller Anreiz für den Kunden ergeben, sondern auch ein deutlicher Anstieg des Kundenengagements. Eine Kundenbefragung von Oliver Wymann in Europa bestätigt, unter anderem auch in Deutschland, dass nahezu die Hälfte der Kunden Gesundheitsdaten teilen, wenn sie im Gegenzug entsprechende Mehrwerte erhalten.
Fazit: Innovations- und Wettbewerbsdynamik wird zunehmen
Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Innovations- und Wettbewerbsdynamik in den nächsten Jahren sicherlich weiter zunehmen wird. Entscheidend ist, dass Versicherer sich offen, neugierig und mutig diesen Veränderungen stellen und ihre Führungs- und Unternehmenskultur weiterentwickeln, um diesen Herausforderungen gemeinschaftlich als Team zu begegnen. Die Logiken der Vergangenheit stehen dem im Wege.
Über den Autor
Dr. Patrick Dahmen startete seine berufliche Laufbahn in der Assekuranz 1999 bei der AXA in Deutschland. Von 2012 bis Ende 2018 hatte er dort die Geschäftsverantwortung für die Lebensversicherung im Vorstand inne. Anschließend war der promovierte Betriebswirt bis August 2021 bei der Talanx AG / HDI in Deutschland als CEO für das Lebensversicherungsgeschäft sowie die Kapitalanlagen verantwortlich. 2023 gründete Dahmen mit „Valytics“ eine Strategie- und Innovationsberatung für die Versicherungswirtschaft. Im Fokus steht die Beratung von Versicherungen bei der Entwicklung und Umsetzung innovativer digitaler Strategien. Zudem ist Dahmen Vorstandsvorsitzender des InsurLab Germany.
Diesen Artikel lesen Sie auch in AssCompact 08/2023 und in unserem ePaper.
Bild: © metamorworks – stock.adobe.com
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